Filmtipp „Die stillen Trabanten“

Aus dem Filmtrailer "Die stillen Trabanten" mit Martina Gedeck. Screenshot: YouTube

Nachts ist der Mensch dem Tod am nächsten, und das keineswegs nur in Horrorgeschichten; nie sind sich Diesseits und Jenseits so nahe wie nach Mitternacht. Aber nicht alle schlafen: Einige sorgen um diese Uhrzeit dafür, dass der Betrieb tagsüber reibungslos weiterlaufen kann. Das Fernsehen verirrt sich in diese Parallelwelt meist nur, wenn im Krimi ein Mord aufgeklärt werden soll. Deshalb nimmt Thomas Stuber eine Sonderstellung ein: Er erzählt mit Vorliebe Geschichten über die sogenannten kleinen Leute.

Die Werke des gebürtigen Leipzigers sind immer dann besonders bemerkenswert, wenn er die Drehbücher gemeinsam mit Clemens Meyer geschrieben hat; der Schriftsteller ist ebenfalls in Leipzig aufgewachsen. Der bislang beste Film der beiden, „Herbert“, mit Peter Kurth als Leipziger Ex-Boxer vor den Trümmern seines Lebens, war ein großartiges Drama, das beim Deutschen Filmpreis 2016 die Auszeichnung „Bester Spielfilm in Silber“ erhielt. Kurth ist seither Stammspieler bei Stuber, er hat auch eine maßgebliche Rolle in dessen nächstem Film gespielt: Das tiefenentspannte Alltagsdrama „In den Gängen“ (2018) erzählte mit poetischem Realismus vom kleinen Glück.

Darum geht es auch in „Die stillen Trabanten“, einer weiteren Zusammenarbeit mit Meyer, auf dessen gleichnamiger Kurzgeschichtensammlung die drei Geschichten beruhen, von denen der Film handelt. Was sie verbindet, ist neben dem Handlungsort – selbstredend Leipzig – allein die Nacht: Ein Mann und eine Frau (Albrecht Schuch, Lilith Stangenberg) treffen sich regelmäßig zum unverabredeten Rauchen außerhalb ihrer Wohnungen, ein Nachtwächter (Charly Hübner) verliebt sich in eine geflüchtete Ukrainerin (Irina Starschenbaum), die seine Tochter sein könnte, eine Bahnmitarbeiterin (Martina Gedeck), die spätabends die Abteile säubert, freundet sich mit einer gleichaltrigen Friseurin (Nastassja Kinski) an. Seelenruhig beobachtet die Kamera die vorsichtigen Annäherungen zwischen diesen Menschen.

Den Film „ereignisarm“ zu nennen, wäre noch untertrieben. Auch deshalb sind diese kleinen Begebenheiten, von denen anderswo nie erzählt wird, so außergewöhnlich, zumal sie nicht ohne Folgen bleiben: Dank der Treppenhausbegegnungen mit Aischa, die früher Jana hieß und über den Koran einen neuen Lebenszweck gefunden hat, beginnt Imbissbudenbesitzer Jens, sich für den Islam zu interessieren; er besucht sogar eine Moschee. Aischas Mann Hamet (Adel Bencherif) gibt ihm den naheliegenden Tipp, den roten Teppich in seinem Lokal gegen Fliesen auszutauschen. Damit löst sich Jens endgültig von einer Vergangenheit, die in Gestalt seines stillen Teilhabers (Andreas Döhler) tagtäglich präsent ist. Reinigungskraft Christa wiederum, die bis zum ersten Aufeinandertreffen mit Birgitt nicht mal mehr den Mut hatte, ihrem tristen Dasein einen Traum abzutrotzen, findet die Kraft, ein gänzlich neues Leben zu beginnen. Die Darbietungen des Ensembles sind ausnahmslos von viel Feingefühl und großer Sensibilität geprägt, aber die Szenen mit Martina Gedeck und Nastassja Kinski, die mit diesem Film nach vielen Jahren ihr Kino-Comeback gibt, sind die berührendsten und von den beiden Frauen zudem mit großem Mut verkörpert.

Peter Kurth wirkt natürlich auch diesmal wieder mit, wenn auch abgesehen von einem kurzen späteren Auftritt im Wesentlichen als Hauptdarsteller des einige Jahre zurückliegenden Prologs, als ein Mähtrupp in der Nähe einer Landstraße eine Flüchtlingsgruppe entdeckt, die um ein kleines Mädchen trauert; das Kind hat die äußerst giftige Pflanze Herbstzeitlose gegessen. Mit dem Epilog setzt Stuber einen Kontrapunkt, als ein blühender Kirschbaum Christas Aufbruch in ein neues Leben symbolisiert.

 

Kinostart für „Die stillen Trabanten“ ist am 1. Dezember.

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