Ein Gespräch mit der Regisseurin Marie Wilke
Im Forum der Berlinale läuft „Aggragat“ von Marie Wilke. Der Dokumentarfilm beobachtet den Arbeitsprozess bei journalistischer Berichterstattung sowie die Basisarbeit von Politiker_innen in Zeiten des Umbruchs. Deren Routine wurde durch den Rechtspopulismus gehörig durcheinander gebracht. Mit distanziertem Blick fängt Wilke Eindrücke vor Ort ein und fügt sie zu einem Gesamtbild der politischen und medialen Gegenwart in Deutschland zusammen. Kommentarlos und ohne Interviews schildert der Film, in welchen Prozessen demokratische Willens-und Wahrheitsfindung stattfindet.
M | Einen Fokus haben Sie auf die journalistische Arbeit gelegt. Sie besuchen die Redaktionen von taz, Bild und MDR, um deren Umgang mit rechtspopulistischen Diskursen zu beobachten.
Marie Wilke | Als ich als Cutterin beim Fernsehen gearbeitet habe, merkte ich, die Beiträge brauchen eine bestimmte Dramaturgie, um dem Zuschauer politische Inhalte zu vermitteln. Wie wird eine politische Wahrheit medial hergestellt?, war deshalb mein Ausgangspunkt. Allerdings kam für mich die Frage hinzu, wie wird Politik eigentlich konkret gemacht? Als ich das Konzept des Films entwickelt hatte, war die aktuelle politische Lage noch nicht so virulent. Später wurde mir klar, dass der Rechtspopulismus mit seinen Anfeindungen gegen Presse und Politiker der rote Faden des Films sein soll. Es geht um die direkte Konfrontation zwischen Journalisten und Politikern, Bürgern und Politikern, Journalisten und Bürgern. Und wo findet die statt? Dem bin ich nachgegangen.
Die härteste Konfrontation spielt sich bei der Pegida-Demo in Dresden ab. Ihr Team läuft zwischen zwei Spalieren Sie mit „Lügenpresse“ beschimpfender Demonstranten hindurch.
Der Rechtspopulismus stellt die Rolle der Journalisten im demokratischen System auf die Probe. Es vollzieht sich aber auch ein Umbruch der eigenen Rollenbilder unter den Journalisten.
Das wird in der taz-Redaktion deutlich. Dort wird über eine satirische Schlagzeile diskutiert: „Schon wieder lässt Merkel Migranten ins Land“ soll mit einem Foto der beiden teuer eingekauften Pandabären für den Berliner Zoo illustriert werden.
Die Redaktion fürchtet, dass dies heute missverstanden werden könnte. Früher war es so: Wir richten die Schlagzeile an eine Zielgruppe, die sowieso versteht, was wir meinen. Heute liegen neben der taz auch Magazine der Neuen Rechten am Kiosk. Sie beanspruchen für sich ebenfalls, auf der richtigen Seite zu stehen und arbeiten mit den gleichen satirischen Zeichen und Methoden. Man muss sich neu arrangieren.
Sie haben mehrere Veranstaltungen und Sitzungen der SPD beobachtet, zum Beispiel einen Workshop im Bundestag als „Training gegen rechts“. Auffällig sind die bürgernahen Veranstaltungen der SPD in Sachsen. Warum diese Partei?
Ich hatte vorab auch andere Parteien angeschrieben. Die SPD reagierte als erste und war sehr offen. Durch Zufall lernte ich Politiker aus Sachsen kennen – wie den Bundestagsabgeordneten Martin Dulig, der mit Bürgerdialogen Touren durchs Land macht. Der Film zeigt die Leute, die dorthin kommen und sagen, was ihnen auf der Seele brennt. Mich hat es allerdings nicht interessiert, was die SPD inhaltlich denkt. Grundsatzerklärungen von Politikern vor laufender Kamera genauso wenig. Ich wollte beobachten, was Politiker konkret machen, also deren Basisarbeit. Das hätten auch bei der CDU sein können. Es ging mir auch darum, die Floskel „Die da oben, wir da unten“ nachzuprüfen. Wer sind denn die Bürger? Politiker sind auch Bürger. Nehmen wir die Sitzung des SPD-Kreisverbands in Meißen. Die sitzen dort zehn Stunden am Wochenende, und da beginnt Demokratie.
Warum beobachten Sie vor allem die alltägliche Arbeit der Journalisten und Politiker?
Wir sehen am Ende nur das gedruckte Blatt, den geschnittenen Beitrag und die Verkündung der Ergebnisse nach politischen Verhandlungen. Kaum einer kennt die konkrete Arbeit und die demokratischen Regeln, wie so etwas entsteht. Meist wollen die Bürger auch gar nicht wissen, wie diese Arbeit gemacht wird. Bei meinen Beobachtungen hatte ich trotzdem immer die Frage im Kopf: Wie ist Demokratie überhaupt möglich?
Dem Publikum wird nichts erklärt, Sie geben kaum Hilfestellung…
Es ist bewusst ein formal transparenter, offener Film. Das, was man im Moment sieht, das passiert. Es gibt keine Message. Der Film bietet dem Publikum die Möglichkeit, die eigene Rolle als Bürger in Deutschland zu reflektieren.
Der Filmtitel lehnt sich an ein Kunstwerk von Joseph Beuys an. Es steht im Reichstag und heißt „Tisch mit Aggregat“.
Ich habe lange gebraucht, bis ich einen passenden Titel fand. Manche denken an einen Aggregatszustand, eine schöne Assoziation. Ich habe – verknüpft mit dem Kunstwerk – eher an ein Ganzes aus miteinander verbundenen Einzelteilen gedacht. Die Einzelteile einer Gesellschaft: Bürger, Politik und Presse.
Die Regisseurin Marie Wilke
wurde 1974 in Berlin geboren, studierte Dokumentarfilm sowie Experimentelle Mediengestaltung. Sie ist als Autorin, Regisseurin und Editorin sowie als Dozentin für Regie und Stoffentwicklung tätig. „Aggregat“ ist nach „Staatsdiener“ ihr zweiter abendfüllender Film. Er wird auf der Berlinale an drei Abenden in unterschiedlichen Kinos gezeigt: Am 21.02., 20 Uhr im „Colosseum 1“, am 24.02., 20 Uhr im „Arsenal 1“ und am 25.02. um 16.30 Uhr in der Akademie der Künste.
(02.11.2018)