Ein Zeltlager vor dem Düsseldorfer Landtag, offen für alle – so präsentierte sich das Campfire-Festival für Journalismus und digitale Zukunft am vergangenen Wochenende im Schatten von „Chemnitz“. Es ist bereits das zweite Event dieser Art, ausgerichtet vom gemeinnützigen Recherchebüro Correctiv und Medienpartner Rheinische Post (RP). In 150 Veranstaltungen erfuhren und erlebten etwa 11.000 Interessierte, wie technologische Innovationen sowohl Alltagsleben als auch Journalismus verändern, und diskutierten engagiert über Gefahren für den demokratischen Zusammenhalt. Einige Eindrücke.
Im Zelt des Dortmunder Instituts für Journalismus versucht Gordon Wüllner eine WLAN-Verbindung zu Journalist_innen in Nigeria, Kongo und Kamerun herzustellen. Doch die Telekom braucht noch Zeit für den Internetanschluss und der Mitarbeiter des Erich-Brost-Instituts (EBI) holt die Kolleg_innen mit seinem Smartphone per Skype in die Gesprächsrunde. Thema: Die Migrationsberichterstattung in afrikanischen Ländern, um die es in dem EBI-Projekt „Journalism in a Global Context“ geht. Gabriele Nina Mitch ist Journalistin im Kongo, wo es allein 4,5 Millionen Inlandsflüchtlinge gibt. Sie sagt, dass es bei kongolesischen Medien und Publikum kein großes Interesse an Migrationsthemen gibt. Und wenn sie Geschichten über Ausgewanderte erzähle, müsse sie vorsichtig bei der Wortwahl sein. Ein Kollege war gezwungen zu fliehen, weil er ins Visier der Sicherheitskräfte geriet. Aus Nigeria, wo viele Menschen vor dem Boko-Haram-Terror flüchten, berichtete Anthony Akaeze, dass die Medien wenig und vor allem über negative Aspekte der Migration informieren – etwa wie Menschen ihr Leben im Mittelmeer riskieren.
Eine der Zuhörer_innen ist Luna Rachmani, Schülerreporterin der Correctiv-Festival-Redaktion, die am Samstag ihren Artikel schreiben wird. Sie ist begeistert von der Interkulturalität und dass „jeder hier frei reden kann“. Die offene Gesprächsatmosphäre schätzt auch Mandy Wiegand, Leiterin des Festivals. Sie ist Künstlerin und als „Nicht-Journalistin“ beeindruckt vom „anderen Zugang zu Medien-Themen“ und dem „gemeinsamen Interesse“ der Festivalbesucher_innen „an gesellschaftlicher Teilhabe“.
Dialog der Demokrat_innen: „Seit Chemnitz bin ich auch besorgter Bürger.“
Auf dem Festival gibt es kaum eine Veranstaltung, in der nicht das Wort „Chemnitz“ fällt – als Synonym für die rechtspopulistischen Ausschreitungen nach dem Mord an einem Deutschen und als Symptom der gesellschaftlichen Spaltung. Poetry-Slammer Max Gebhard zitiert Sascha Lobo („Für Rechte ist Angela Merkel Antifa-Aktivistin“) und bekennt: „Seit Chemnitz bin ich auch besorgter Bürger.“ Reporter-Slam-Gewinnerin Nora Hespers bezeichnet es als „Realsatire“, dass nun wieder Rechtspopulisten in Talkshows sitzen, weil es das Recht auf Redefreiheit gibt, für das ihr Großvater während der Nazizeit kämpfte und ermordet wurde. Pädagoge und Journalist Ali Can versucht mit seiner „Hotline für besorgte Bürger“ den Dialog. Taz-Co-Chefin Barbara Junge will lieber über die 80 Prozent Nicht-AfD-Wähler und ihre Themen schreiben. Publizist Gabor Steingart ist angesichts des politischen Klimas skeptisch, denn das neue Buch von Thilo Sarrazin wurde zum Topthema und nicht einmal der „Rentenvorstoß von Olaf Scholz“ hatte dagegen medial eine Chance.
„Chemnitz“ sei der Kulminationspunkt einer jahrelangen Entwicklung seit 2011, als Sarrazins erstes Buch „Deutschland schafft sich ab“ erschien, erläutert Publizistin Liane Bednarz, mit Correctiv-Geschäftsführer David Schraven und RP-Chefredakteur Michael Bröcker im Gespräch über die „Verantwortung der Medien für den Aufstieg der AfD“. Die Publikation sei Türöffner für die Verankerung rechten Gedankenguts in der bürgerlichen Mitte gewesen und habe die Wahlerfolge der AfD begünstigt, die nur ein Thema hat: Angst vor muslimischer Zuwanderung. „Jetzt trauen sich die Menschen, als Mob mit echten Rechten zu marschieren.“ Bednarz meint, es sei Aufgabe der Politik, der AfD das Thema zu nehmen. Medien könnten Realitäten nicht ausblenden, sie müssten besonnen damit umgehen und eine sachliche Debatte ermöglichen. Das gelte auch für Sarrazins jüngstes Buch „Feindliche Übernahme“, das vor sachlichen Fehlern strotze. Auf die Publikumsfrage, ob der Journalismus im Elfenbeinturm sitze, antworten Schraven und Bröcker, dass die meisten Journalist_innen in der Tat nicht in Problembezirken wie Altenessen wohnen, wo Ratten über die Straßen laufen, und die Sorgen der Menschen dort demnach nicht mitbekommen. Schraven fasst zusammen: „Journalisten müssen näher an die Leute rangehen, Neues ausprobieren und sich der inhaltlichen Auseinandersetzung stellen.“