Digital im NDR: Aufteilung in Redaktion und Produktion passé?
Sabine von Berlepsch, freigestellte Personalrätin beim Norddeutschen Rundfunk (NDR), hat ein Problem. Besorgt beobachtet die gelernte Cutterin die rasante Entwicklung und Umsetzung der Digitalisierung beim NDR-Fernsehen. Gesprochen wird von vernetzter Produktion, File-Transfer von PC zu PC, Drag and Drop, volldigitaler Workflow vom Ingest bis zum Playout. Ganze Berufsbilder werden umgekrempelt, neu definiert und erfunden, ineinander verzahnt.
Der neue Allrounder ist der Mediengestalter, ein Alleskönner für Technik, Bild und Ton, einer, der sich bei Bedarf in jede Richtung spezialisieren kann. Und auch bei den Journalisten tut sich viel: Sie sitzen in Newsdesk-Räumen an ihren PCs, schneiden, vertonen, planen, schicken ab. Was sich nach Arbeitsverdichtung, Stress und Hetze anhört, wird in den Redaktionen so nicht empfunden. Sabine von Berlepsch: „Die Kollegen sind hochmotiviert, so als ob sie einen Jumbo fahren.“
Tatsächlich: Hamburg Lokstedt, der NDR, Haus 18. Hier sitzt ARD-aktuell mit der Tagesschau, den Tagesthemen und dem Nachtmagazin. Und im Newsroom 4 wird der ARD-Digitalkanal Eins Extra produziert. Hier sei, so die NDR-Pressestelle, „kurz vor Weihnachten der Startschuss für den vollständigen Übergang auf digitale Produktionstechnik gefallen.“ In der Redaktion, dem Cockpit des Jumbos, herrscht geschäftiges Treiben. Knapp 25 Redakteure, Autoren, Grafiker und Cutter, die „Digis“ eben, sitzen vor ihren Bildschirmen. Redakteure und Autoren sichten die „Euros“, Filmmaterial anderer ausländischer Sender, überfliegen das Angebot der Agenturen, schauen sich Beiträge der einzelnen ARD-Studios an. Sie treffen eine Auswahl, laden sich das Material auf den Rechner. Ein Mausklick, das „In“ wird gesetzt, noch einer für das „Out“, Bild und Ton sind markiert und der nächste Schnitt, die nächste Filmsequenz wird drangesetzt. Parallel wird getextet, ein Insert bestimmt, bei der Grafik ein Hintergrundbild bestellt und alles über das Redaktionssystem „OpenMedia“ mit jeder einzelnen Position in den Sendeablauf eingegeben.
Zwei Tische weiter wird das gleiche Material für einen längeren, späteren Beitrag bearbeitet. Kein Streit oder Gedrängel wie früher um die einzig angelieferte Kassette, denn das Material liegt zur freien Verfügung für alle Kollegen auf dem Server. Kein Warten mehr auf einen freien Schnittplatz, eine freie Cutterin, denn an jedem PC ist gleichzeitig alles durchführbar, Server und vernetzte Produktion machen es möglich. Und noch einen Tisch weiter in diesem Großraumbüro steht zwischen telefonierenden Kollegen, neben eingeschalteten Fernsehgeräten mit der laufenden Übertragung der Handball-WM ein Mikrophon. Der Off-Text wird gesprochen. War früher ein ganzes Mischstudio notwendig, hier reicht ein einziger Arbeitsplatz im Newsroom. Die Nebengeräusche werden weggefiltert. „Journalisten-Editing heißt das Zauberwort,“ wie es Dr. Kai Gniffke, Erster Chefredakteur von ARD-aktuell, stolz beschreibt. „Das entspricht unserer Philosophie des vernetzten Arbeitsplatzes. Die althergebrachte Aufteilung in Redaktion und Produktion ist damit passé.“
Ein Stock tiefer, die Regie und das Sendestudio: Auf den ersten Blick – alles wie früher: Monitore neben Monitoren, ein Mischpult für den Ton, die große Glaswand zum Studio; einer beschwert sich, dass die Moderatorin schon wieder nicht pünktlich gewesen sei. Es herrscht eine angespannte, betriebsame Ruhe. Keine Kommandos, kein „Kamera Eins bitte – Und MAZ ab – Bitte zum Schluss kommen, wir hängen.“ Irgendetwas fehlt. Schnell wird klar: Hier gibt es keine Regie im herkömmlichen Sinne mehr, der Regisseur der Sendung ist nicht anwesend. Oder korrekter: Regie ist überall – auf jedem der PC-Bildschirme jedes einzelnen Technikers. Automatisch läuft das Redaktionssystem „OpenMedia“ und hakt im Sendeablauf Punkt für Punkt, Position für Position unweigerlich ab. Ein freier Regisseur zu M: „Einige Kollegen sind total fixiert auf diesen Scheiß-PC-Monitor. Die denken nicht mehr im Bild, die denken in OpenMedia. Man sieht nicht mehr auf die Monitorwand, sondern nur noch in seinen Computer, wo das System läuft. Und das System ist das Gesetz.“
Flexibel und zeitunabhängig
Zwei Häuser weiter in Hamburg Lokstedt, Haus 16, die DAS!-Redaktion. Hier wird an dem täglichen Abendmagazin für das ganze NDR-Sendegebiet gearbeitet. Der freie Autor und Realisator Domenique Ziesemer ist diese Woche für die zweiminütige Rubrik „DAS! zappt“ zuständig, eine kleine heiter-ironische Tagesbetrachtung aus Sicht der großen, weiten Welt. Sein Bildmaterial ist auch hier die „Euro“. Ziesemer scrollt sich durch die Übersicht der Überspielungen, die alle „auf dem Server liegen“. Egal wer im Sender mit diesem Material gerade arbeitet, auch Ziesemer kann sich die Bilder auf seinen Bildschirm holen. Er entscheidet sich für die kleinen, in einem Zoo geborenen Pandas, sichtet das Material, wählt einzelne Szenen aus, setzt seine Markierungen, schneidet, verschiebt eine schon geschnittene Sequenz mit der Maus an eine andere Stelle und ist zufrieden: „Wir arbeiten zeitunabhängiger. Früher hatte ich einen festen 15-Uhr-Termin im Schnitt, musste mich mit anderen Kollegen um das Material schlagen. Jetzt ist alles viel flexibler.“ Dennoch: Die Qualität bleibt stellenweise auf der Strecke. An dem redaktionsnahen Schnittplatz kann nur hart geschnitten werden, Überblendungen oder andere Feinheiten sind nicht drin. Aber der Autor ist mit dieser Arbeitsweise zufrieden. Doch auch hier eine Einschränkung: „Längere Stücke schneide ich lieber nicht allein. Ich bin ein Fan der Arbeitsteilung. Es ist immer noch schön, sich im Schnitt mit jemandem auszutauschen. Und es gilt der alte Spruch: Die Cutterin ist immer noch der erste Zuschauer.“
Ein guter Film, so will es eine alte Fernsehregel, entsteht dreimal: Als erstes beim Autor, der recherchiert, sich die Geschichte vorstellt, weiß in welche Richtung sie gehen soll. Im zweiten Schritt kommt der Kameramann dazu, der mit eigenen Ideen und seiner Bildsprache optimiert und vielleicht sogar eine neue Richtung anzeigt. Und zum Schluss setzt eine gute Cutterin im Schnitt dem Gesamtwerk ihren Stempel drauf.
Immer noch NDR, diesmal weiter östlich, das Landesfunkhaus Schwerin. Keine Rede mehr von einem gemeinsamen Gesamtwerk, an dem die einzelnen Experten mitwirken. In Mecklenburg-Vorpommern sollen ab dem 1. März in einem Pilotversuch vor allem in den Regionalbüros Videojournalisten, die „Widjschäis“, eingesetzt werden.
Widjschäis sind die taffen, meist jüngeren Kollegen, die alles selber machen. Im Volontariat oder auf diversen kommerziellen oder sogenannten public-privat-partnership Medienschulen haben sie es schon lernen können: Ausgestattet mit einer kleinen, leichten Digitalkamera, einem einbeinigem Stativ und einem Laptop können sie alles und machen alles. Sie recherchieren das Thema, fahren zum Termin, stellen die Fragen, nehmen die Antworten auf, handhaben die Kamera, pegeln den Ton, machen Schnittbilder, sorgen fürs Licht und schneiden, texten und mischen das fertige Stück.
Bimedial und multikompatibel
Vorreiterrolle bei den Videojournalisten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk spielte der Hessische Rundfunk (HR). Mit dem „Telearbeiter“ wurde das Berufsbild eines bimedialen Journalisten installiert. Diese „eierlegende Wollmilchsau“, so die sarkastische Bezeichnung seiner nur eindimensional ausgebildeten Kollegen, mache einfach alles und noch viel mehr: Als Regionalredakteur oder Freier ist er ständig unterwegs, arbeitet für Funk und Fernsehen gleichzeitig, ist ein medialer Transgender mit Rundfunk-Aufnahmegerät, Fernseh-Digi und multikompatiblen Schnittplatz. Er arbeitet auf allen Ebenen und der HR verbucht ihn in seinem 36seitigen Abschlußbericht „Pilotversuch Videojournalisten“ als Erfolg: „Videojournalisten sind eine Bereicherung für das Programm“.
Aber nicht nur Programmtechnokraten geraten ins Schwärmen, auch Journalisten können sich den vielfältigen Möglichkeiten eines Einsatzes der Widjschäis nicht entziehen. So auch der Redakteursausschuss des NDR, „weil Videoreporter in bestimmten Situationen unauffälliger drehen und mit ‚kleiner Ausrüstung‘ eine größere Nähe zu ihrem Protagonisten herstellen können.“ Für die Redakteursvertreter stellt sich daher die Frage, warum das Schweriner Pilotprojekt „nicht in allen Landesfunkhäusern und im Fernsehbereich Zeitgeschehen angesiedelt werden kann.“ Eine Frage , die der NDR-Kameramann und Personalrat Kai Sönnke mit einer simplen Festsstellung beantwortet: „Das bedeutet einen klaren Qualitätsverlust.“ Denn ein wirklich guter Film entsteht dreimal – alles andere sind meist nur Momentaufnahmen aus dem Rot- und Blaulichtmilieu.