„Alte Tante“ mit jährlicher Verjüngungskur
DOK Leipzig, das älteste Dokumentarfilmfestival der Welt, feiert seinen 60. Geburtstag. Jede der bisherigen 59 Ausgaben war spannend auf ihre Art – die zu DDR-Zeiten ebenso wie die nach der deutschen Wiedervereinigung. Und spannend bleibt es bei „der alten Tante“ DOK. Das beweisen die jährlich neuen Zuschauerrekorde und ein begeistertes Publikum, dessen Jugendanteil erfreulich hoch ist.
Wie kann man sich dem Jubiläum eines Festivals annähern, das 1955 als „Gesamtdeutsche Leipziger Woche für Kultur- und Dokumentarfilm“ gegründet wurde, bis 1889 im sozialistischen System seinen Platz hatte und nun gesamtdeutsch und international besteht? DOK selbst unternimmt vor dem eigentlichen Festival ab dem 27. Oktober an drei aufeinander folgenden Abenden und an drei ungewöhnlichen Orten filmische Versuche, dies zu tun: Sie sind überschrieben mit „Politik und Geschichte“ (UT Connewitz), „Young Eyes“ (Institut für Zukunft) und „Aktivkunst“ (Grassi Museum). „Das Jubiläumsprogramm wirft Schlaglichter auf essentielle Arbeiten aus der Festivalgeschichte, wie zum Beispiel Filme von Jürgen Böttcher und Volker Koepp, aber auch von Heddy Honigmann oder Inès Rabadán“, sagt der neue DOK-Programmchef Ralph Eue. In den sich anschließenden Gesprächsrunden mit jeweils zwei Personen aus unterschiedlichen Generationen, aber enger Verbindung zum DOK, sollen die filmischen Zeitreisen diskutiert und eingeordnet werden.
„Wir wollen zeigen, wie die Situation vor 60 Jahren war und sie mit der heutigen vergleichen. Geschichte folgt bestimmten Mustern und diese Muster wiederholen sich“, sagt Festivaldirektorin Leena Pasanen. Vielleicht lautet das diesjährige Festivalmotto deshalb „Nach der Angst“. Ein mutiges Motto, denn nicht nur das aktuelle Weltgeschehen, sondern auch der Ausgang der Bundestagswahlen hierzulande zeigt, dass große Bevölkerungsteile ganz gewiss nicht nach, sondern eher mitten in oder vielleicht noch kurz vor der Angst stehen. Die Auswahl der Filme für die Wettbewerbe scheint geeignet für die alljährliche Verjüngungskur, die die „alte Tante“ DOK zuverlässig durchmacht. Ob die „Post-Angst-Atmosphäre“ während des Festivals Raum greifen wird, ist eine spannende Frage.
Kuttners An- und Einsichten
Ohne Frage spannend wird Jürgen Kuttners (www.kuttner.de) Performance zum 60. DOK-Geburtstag, die zum Post-Angst-Motto passt, das wiederum den (bislang wenig bearbeiteten) west-ostdeutschen Knacks aufnimmt. Und zwar doppelt, denn Kuttner hatte mit seinen Videoschnipselvorträgen zum nicht stattgefundenen 50. Jahrestag der DDR 1999 begonnen und das als Selbstbewusstseinsschulung für Ostdeutsche, als vorübergehende, einmalige Randbemerkung zur deutschen Einheit, verstanden. Doch seine Rechnung ging nicht auf, er musste immer weitermachen, denn die innerdeutsche Einheit blieb ein Phantom und auch darüber hinaus fanden sich zu verschnipselnde Themen. Mittlerweile ist der studierte Kulturwissenschaftler dafür bekannt und (größtenteils) beliebt, „Backpfeifen und Einsichten“ in Windeseile zu verteilen, und zwar per schmerzhaft-witzig-schräger Frontal-Präsentation. Heimspiele hat Kuttner in der Berliner Volksbühne oder dem Deutschen Theater, nun wird er im ehemaligen Kino und der heutigen Event-Kultstätte UT Connewitz am 1. November im Rahmen des DOK auftreten. „Bei Kuttner hat sich das Wort Einfall noch seinen ursprünglichen, taktilen Kern bewahrt.“ In diesem Sinne wird sich der Meister des „angewandten Surrealismus“ über die Geschichte des altehrwürdigen Leipziger Festivals und sein diesjähriges Motto „Nach der Angst“ hermachen.
Erinnerungen an Einzigartiges
Die frühere M-Chefredakteurin Ulrike Maercks-Franzen war seit den späten 1970er Jahren regelmäßiger DOK-Gast. Damals arbeitete sie als Redakteurin für den linken Münchner Filmverleih Unidoc. Für die junge Journalistin war die alljährliche Festivalwoche in Leipzig „eine einzigartige Möglichkeit, sich mit Filmemacher_innen aus sozialistischen Ländern zu treffen und offen auszutauschen“. Die Atmosphäre sei meist ungezwungen und ohne größere Reglements gewesen, auch wenn allen klar gewesen sei, dass die Staatssicherheit immer mit im Spiel war. „Das war ein sehr freies, fröhliches Miteinander und man scherzte eher über eventuelle Mithörer“, erinnert sich Ulrike. „Lange, leidenschaftlich und wenig heimlich wurde auch über Filme diskutiert, die nicht fürs Festivalprogramm zugelassen wurden.“ Dennoch habe es immer spannende, streitbare Filme zu sehen gegeben, wie u.a. Gitta Nickels „Jung sein – und was noch?“, in dem der Protagonist „La Paloma“ singt und das als sein Lebensmotto begreift. „Dieser wunderbare Filmheld wurde ebenso wie die Regisseurin vom Publikum gefeiert und war in den Folgejahren dann regelmäßig in Leipzig zu Gast, weil der Dreh bei ihm Interesse für den Dokumentarfilm geweckt hatte.“ In Erinnerung sei ihr auch das Jahr 1983 geblieben, als Jugendliche vor dem damaligen Festivalkino „Capitol“ eine Schweigedemo mit Kerzen abhielten und von der Polizei brutal abgeführt wurden. „Wir haben das nicht verstanden. Wir sahen diese jungen Leute als Verbündete, die sich ebenso wie wir als Akteure der Friedensbewegung verstanden.“ Im damaligen Festivallokal, dem „Thüringer Hof“, hätten die Gäste noch lange darüber diskutiert, wie sie sich mit den jungen Demonstrant_innen solidarisieren könnten…
Auch bei der 25. DOK-Ausgabe 1989 war Ulrike in Leipzig dabei und erlebte während des Festivals eine der größten Montagsdemonstrationen mit, bei der die Stasi-Zentrale besetzt wurde. Ein Jahr später fand das Festival bereits in einem grundlegend veränderten, vereinigten Deutschland statt.
Der Historiker und Journalist Andreas Kötzing hat zum DOK-Jubiläum sein immenses Wissen in ein sehr lesenswertes Essay gepackt, das hier nachzulesen ist.