„Probebohrungen“ beim Wirtschaftsjournalismus in der Finanzkrise
Desorientierung oder Aufklärung, Herold der Herrschenden oder Anwalt der Demokraten – das Janusgesicht der Öffentlichkeit gibt immer wieder Anlass zu besorgter Nachfrage nach ihrer aktuellen Verfassung. Wenn die Welt gerade mit den Nachwehen der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit der Großen Depression kämpft, liegt deshalb die Frage nahe, wie der Wirtschaftsjournalismus sein Publikum im Verlauf und im Vorfeld der globalen Krise der Großen Spekulation informiert und orientiert hat. Oder um es mit den Worten eines früheren Goldman-Sachs-Managers zu sagen: „Wenn eine Gruppe von Bankern Hunderte Milliarden Dollar an Boni dafür kassiert, dass sie weltweit Billionen Dollar an Vermögen und hundert Millionen Arbeitsplätze vernichtet…“, dann liegt es im öffentlichen Interesse zu erforschen, welche Rolle der Wirtschaftsjournalismus dabei gespielt hat.
Die Otto-Brenner-Stiftung hat das auch so gesehen und kein großes Forschungsprojekt, aber „Probebohrungen“ in Auftrag gegeben: „Wirtschaftsjournalismus in der Krise. Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik“ heißt die 274-Seiten-Studie, die dabei herausgekommen ist. Ihr Kernelement ist eine quantitative und qualitative Auswertung von 822 Artikeln der fünf Qualitätszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Financial Times Deutschland (FTD), Handelsblatt (HB), Süddeutsche Zeitung (SZ) und Die Tageszeitung (taz); von 212 Meldungen des dpa-Basisdienstes und 141 Beiträgen aus ARD-Tagesschau- und Tagesthemen-Sendungen. Erfasst wird der Zeitraum zwischen Oskar Lafontaines Rücktritt 1999 und dem G20-Gipfel von Pittsburgh im September 2009, nicht als Vollerhebung, sondern anhand von insgesamt 16 ausgewählten Ereignissen. Fünf Fallstudien, darunter das Medienecho der Grundsatzrede des DGB-Vorsitzenden auf dem Kongress 2006 und zweier Reden von Finanzminister Steinbrück am Börsenplatz Frankfurt, ergänzen die Auswertung.
Die einfache Regel, dass der Bote nicht für die Botschaft verantwortlich zu machen ist, muss auch auf den Journalismus angewendet werden. Der, wie wir heute wissen, irreführende Unsinn, den Banker, Fondsmanager, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker über die kluge Risikostreuung auf dem Finanzmarkt und die Krisenfestigkeit der Realwirtschaft erzählt haben, das offensichtliche Versagen, dessen sie sich schuldig gemacht haben, ist in den Artikeln und Sendungen gut dokumentiert, ohne dass daraus irgendein Vorwurf an die Redaktionen abzuleiten wäre. Wir erkennen in dem Vorwurf an den Wirtschaftsjournalismus, er habe nicht oder unzureichend vor der Großen Spekulation gewarnt und es versäumt, Alarm zu schlagen, nicht nur eine berechtigte Kritik, sondern auch die gesellschaftliche Suche nach einem schwarzen Schaf – in einem Stall voller Sündenböcke. Aber damit kann und darf sich die journalistische Zunft nicht beruhigen. Wir kennen keinen Journalisten, erst recht keine Journalistin, die sich als Servierpersonal für Informationen und Meinungen verstehen, die in Vorstandsetagen, Presseabteilungen und Kabinettssitzungen ausgekocht wurden. Genau so jedoch haben sich die Wirtschaftsredaktionen von SZ, HB und FAZ bis zum Ausbruch der offenen Krise verhalten, der dpa-Basisdienst und die ARD-Tageschau/ Tagesthemen-Sendungen auch noch darüber hinaus.
Sollte die journalistische Arbeit, die wir untersucht haben, repräsentativ für oder sogar besser als andere sein – immerhin haben wir Qualitätszeitungen analysiert –, hätte Ex-Bundespräsident Walter Scheel bis zum Zeitpunkt des Krisen-Krachs recht behalten: „Der Mensch, der gar nichts liest, ist besser informiert als derjenige, der nur Zeitung liest.“ Ignorieren der Risiken und derjenigen, die auf die Risiken hinweisen, Beschönigen und Beruhigen, darin sah der Wirtschaftsjournalismus offenkundig seine wichtigsten Aufgaben. Gefangen in einem Deutungsmuster, das im Markt alle Fortschritts- und Selbstheilungskräfte versammelt sieht, wurde die große Freiheit des großen Geldes eingefordert oder zu gedankenlos transportiert. Deregulierung hieß das Zauberwort. Die Spekulationsgewinner wurden gefeiert und noch jedes obskure Geldgeschäft, eben weil es profitabel war, zum Garanten für Wettbewerbsfähigkeit und Standortstärke erkoren. Der ausführliche Literaturbericht, der die Studie abschließt, liefert Belege zuhauf, dass anderes, kritisches, realitätstüchtigeres Wissen offline und online verfügbar war.
Die Krise hat dann – das ist gut belegbar – die Sichtweise auch der Redaktionen verändert. Wie lange, wird sich bald zeigen. Wie gründlich, lässt sich schon jetzt beantworten. Vor allem in der FTD und in der taz finden sich wiederholt fundierte Analysen. Die globalen Handelsungleichgewichte, zu welchen Deutschland als langjähriger Exportweltmeister entscheidend beiträgt, die soziale Landkarte mit riesigen Geldbergen und tiefen Elendstälern als Kehrseite, solche Krisenfaktoren werden trotzdem vergleichsweise selten angesprochen. Sehr viel lieber zerbrechen sich die Wirtschaftsredaktionen die Köpfe darüber, welche Gefahren damit verbunden sind, dass der Staat plötzlich wieder gebraucht wird und mitmischt. Der Wirtschaftsjournalismus lässt sich fesseln von der Frage, ob und wie der Staat die Rolle eines Krisenmanagers ausfüllen soll. Es entsteht teilweise der Eindruck, nicht die Wertverluste, nicht einmal die Funktionsdefizite des Finanzmarktes und deren realwirtschaftliche Folgen seien das herausragende Problem der Krise, sondern vielmehr der Bedeutungszuwachs des Staates. Ob, wie und wann der Staat wieder den Rückzug antritt, wird jedenfalls stärker erörtert als zum Beispiel die Frage, wie die Folgelasten der Krise verteilt werden.
Insgesamt ist die ‘Erzählung der Krise’ gekennzeichnet von Faktensammlerfleiß und Reflexionsfaulheit. Die einzelnen Nachrichten treten dem Publikum entgegen wie Teile eines Puzzles, dessen Gesamtbild nie existiert hat. Dieser Basar-Charakter des Informationsangebots dürfte unter den turbulenten Bedingungen einer globalen Krisensituation kaum zu vermeiden sein; gerade deshalb wäre von den Redaktionen zu erwarten, dass sie ihr Publikum damit nicht alleine lassen, und sei es nur, indem sie das Problem auch als ihr eigenes aufgreifen, also einen Hauch von Reflexion, Selbstzweifel und Selbstkritik anbieten. Davon scheinen sie etwa so weit entfernt wie Spekulanten von einem Gedanken an Gerechtigkeit.
Zwischen dem, was Tag für Tag als redaktioneller Output angeboten wird, und der Nachdenklichkeit, die der einzelne Journalist zu erkennen gibt, liegt – die Arbeitswelt. Die ausführlichen Interviews, die in der Studie dokumentiert werden, zeigen ein hohes Problembewusstsein und die Fähigkeit zur Selbstkritik. Dass die Redaktion ARD-Aktuell und die dpa zu Interviews nicht bereit waren, passt im Nachhinein ins Bild. Aber davon abgesehen tönt aus der Kluft zwischen der individuellen Kompetenz und dem redaktionellen Hamsterrad-Betrieb ein dringender Appell, die Arbeitsbedingungen zu thematisieren.
Unser Befund, so fassen wir es im Resümee zusammen, mündet in diese Frage: Hat der Journalismus in der Breite die Arbeitsbedingungen, die es ihm erlauben, möglichst sogar erleichtern, seine Arbeit gut zu machen? Wie können Redaktionen ihre Sensoren und Sensibilitäten so ausbauen, dass begründetes kritisches Wissen in den Routinen des redaktionellen Alltags wahrgenommen und geprüft wird? Und wie können Redaktionen, deren interne Arbeitsprozesse geprägt sind von Hierarchien, Kostendruck, unsicheren Beschäftigungsbedingungen, Personalabbau und einem vermachteten, teilweise höfischen Meinungsklima, eine demokratische öffentliche Diskussion befördern? Wir brauchen eine öffentliche Debatte über die Produktionsbedingungen der veröffentlichten Meinung.
Zur Studie
Hans-Jürgen Arlt / Wolfgang Storz
Wirtschaftsjournalismus in der Krise.
Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik. Arbeitsheft 63 der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt/M. 2010, 274 Seiten. Kostenlos erhältlich über www.otto-brenner-stiftung.de