Der Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt und Differenz ist immer noch nicht ausreichend in der journalistischen Aus- und Fortbildung verankert. Deshalb hat Miriam Grabenheinrich in einem ethnologischen Forschungsprojekt ein Curriculum zur Vermittlung von Diversity Kompetenz entwickelt, die im Redaktionsalltag nicht nur bei medienethischen Entscheidungen hilft, sondern auch eine facettenreichere Themenfindung erleichtert.
Die Ethnologin, Journalistin, Dozentin und Coachin Miriam Grabenheinrich beschäftigt sich bereits seit 2010 mit der mangelnden Diversity-Kompetenz von Journalist*innen. Deshalb hat sie ein Trainingskonzept entwickelt, das die Teilnehmenden dafür sensibilisiert, wie sie „durch die Themenselektion und -reduktion eine mediale Wirklichkeit konstruieren, bei der die Mehrheitsperspektive dominiert“.
Die Forscherin ermittelte zunächst, inwieweit überhaupt ein ausdifferenziertes Verständnis von kultureller Vielfalt jenseits starrer Teilung von „wir“ und „die anderen“ in der journalistischen Praxis präsent ist und welche Konsequenzen daraus für die Aus- und Fortbildung resultieren. Dabei ging sie von einem modifizierten Diversity Ansatz in der Ethnologie aus. Er ist multidimensional und beinhaltet verschiedene Dimensionen wie Kultur, Geschlecht, Alter, Herkunft oder Religion, die miteinander verflochten sind. Als repräsentationskritischer Ansatz deckt er auch Dominanzstrukturen auf.
Blickwinkel ohne Berührungsängste weiten
Literaturhinweis:
Miriam Grabenheinrich: Journalismus und Diversity. Umgang mit kultureller Diversität in der journalistischen Praxis und Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung. Springer VS Verlag 2023
Grabenheinrichs Trainingskonzept besteht aus sieben verschiedenen Modulen. Die aus den Redaktionen bekannte Sende- und Blattkritik diente einer Sensibilisierung für die „journalistische Repräsentationspraxis“, d.h. die vermittelten Medienbilder. Die Forscherin bemerkte, dass vielen Teilnehmenden Inhalte und Formulierungen nicht auffielen, die Protagonist*innen der Beiträge „vereinheitlichten oder den Fokus auf deren Andersartigkeit legten“. So sei den meisten entgangen, dass homosexuelle Männer und Frauen in Headlines wie „schwule Flagge“ oder „Adoptionsrecht für Schwule“ als Schwule vereinheitlicht werden.
Auf die Sensibilisierung der Teilnehmenden für eine diskriminierungsfreie Berichterstattung folgt eine Reflexionsphase. Eine Teilnehmerin meinte: „Bei Umfragen achte ich nur auf die Abwechslung von Männern und Frauen. Bei Menschen mit Behinderung habe ich wohl Berührungsängste. Das ist mir vorher nicht aufgefallen, aber meinen Redakteuren offensichtlich auch nicht.“ Da der Fokus des Trainings auf kultureller Diversität lag, wurden Kenntnisse über Zuwanderung vermittelt und die Berichterstattung über Menschen mit Migrationshintergrund thematisiert. „Als mir klar wurde, dass man eine Realität auch durch Auslassung schafft, habe ich überlegt, über wen ich schon alles berichtet habe. Bei den Experten wie Arzt oder Wissenschaftler war tatsächlich noch nie ein Migrant dabei. Darauf werde ich zukünftig verstärkt achten“, so eine nachdenkliche Stimme aus dem Teilnehmendenkreis. Eine andere reflektierte, dass die Ausblendung bestimmter sozialer Gruppen auch mit der eigenen gesellschaftlichen Positionierung zusammenhängt: „Wir kommen fast alle aus deutschen Bildungshaushalten. Da stellt sich wirklich die Frage, ob wir immer die Perspektiven aller im Visier haben können.“
Besonders interessant fanden die jungen Journalist*innen postkoloniale Erklärungsansätze für Exklusionsprozesse, die ihnen etwa stereotype und diskriminierende Berichterstattung bewusst machten. „In unserer Generation sagt man eher Schokokuss und keiner singt „Zehn kleine N*“.
Themen finden und vermitteln
Ich habe mir aber trotzdem nie Gedanken gemacht, woher die gängigen Bilder von Menschen aus afrikanischen Ländern kommen“, so ein Teilnehmer und eine Teilnehmerin bekannte: „Erst dachte ich: Na ja, ist doch eigentlich okay, wenn sie bunte Trachten tragen und trommeln – das gehört doch auch zu ihrer Kultur. Dann wurde mir aber so langsam bewusst, dass es mir auch nicht gefallen würde, wenn wir Deutschen immer nur einseitig gezeigt würden. Nicht nur, weil es unfair ist, sondern im Prinzip ja auch langweilig.“
„Sein Tun als Journalist immer zu reflektieren und sich dadurch damit zu beschäftigen, wie man über Menschen und Zusammenhänge berichtet.“ So resümierte eine Teilnehmerin die „Repräsentationskritik“, der dann ein Praxistransfer folgte. Teams sollten Ideen für die Thematisierung von „Kopftuch“ in verschiedenen Medien sammeln und sich Quellen und Interviewpartner*innen dazu überlegen. Sie nutzten dafür Kreativitätstechniken wie „AnaloGraffiti“, bei dem zu jedem Buchstaben des Recherchebegriffs ein Wort assoziiert wird. So kam ein Team über das P wie Pflicht zum Beispiel auf den Arbeitstitel: Das muslimische Kopftuch
Alle wünschten sich Folgetrainings, denn es sei klargeworden, so eine Teilnehmerin in der Schlussrunde, „wie viele Hintergründe einem fehlen und dass man einige Schubladen im Kopf hat, um die Komplexität zu reduzieren. Klar müssen wir als Journalisten Inhalte reduzieren, aber das muss nicht Vereinheitlichung oder Ausblendung von bestimmten Gruppen bedeuten“ und ein anderer wünschte sich für die Praxis, „dass ich mit meinen Artikeln die Leser motiviere, sich für verschiedene Perspektiven zu interessieren.“
Grabenheinrich konstatierte abschließend, dass eine so vermittelte journalistischen Diversity Kompetenz in der Praxis nur langfristig Erfolg haben könne, wenn ein ausdifferenziertes Verständnis dafür in den Medienbetrieben verankert werde – mit regelmäßigen Lernangeboten, einem ganzheitlichen Leitbild, Diversitätsbeauftragten, Vernetzungen mit Migrant*innen-Organisationen oder Ethnolog*innen sowie einem höheren Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und natürlich: die regelmäßige Evaluation der Maßnahmen.