Die Verteidiger des Borderline-Journalismus markieren Demarkationslinien:
Spießige Nachrichten-Journalisten versus durchgeknallte Edelfedern
Die Diskussion über den Borderline-Journalismus treibt seltsame Blüten. Eine „an Hexenjagd grenzende“ Verfolgung von Autoren, die sich „um einen anderen, ästhetischeren Journalismus bemühen“, will Markus Peichl, ehemaliger „Tempo“-Chefredakteur, in bundesdeutschen Redaktionen ausgemacht haben. Peichl scheint kein Wort groß genug, um den Skandal der als Fälschung aufgeflogenen Interviews des Borderline-Autors Tom Kummer im Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) klein zu reden. „Kriegsberichterstattung“ schäumt Peichl über jene ungemein verdienstvolle SZ-Dokumentation, in der die im eigenen Magazin jahrelang gepflegten Kummer-Praktiken – eine mysteriöse Mischung aus Facts und Fiction – kritisch beleuchtet werden.
Peichl, Mentor einer ganzen Generation von Popjournalisten, sieht die Gefahren für die Glaubwürdigkeit des Gewerbes nicht etwa in erfundenen Geschichten, die mitunter – man höre und staune – durchaus eine „tiefere Wahrheit“ beinhalteten. Die Übelstände der Branche lägen „eher im Nachrichten-Journalismus“. Und der kommt für den Verfechter des „subjektiven, literarischen Journalismus“ ausgesprochen platt daher: „Da einigen sich PR-Leute mit Redakteuren, was geschrieben werden darf und was nicht, und das nennt sich dann Wahrheit.“
Am Ende seiner Philippika gegen den nackten Faktenjournalismus räumt Peichl immerhin „Demarkationslinien in unserem Denken“ ein: „Da der brave Polizeireporter, dort der eitle Schönschreiber. Da der spießige Nachrichtenjourna-list, dort die durchgeknallte Edelfeder – und die einen verachten die anderen.“ Wenigstens für diese These hat Peichl einen eindrucksvollen Beleg geliefert. Unterdessen hofft „Spiegel“-Chefredakteur Stefan Aust, „dass der Fall Kummer ein einmaliger Vorgang bleibt – zumindest in den seriösen Medien“. Bei den anderen Blättern ersetze „ja schon seit langem die Phantasie oft die Fakten“.
Dass es in deutschen Redaktionen an investigativem Journalismus mangelt, ist für den prominenten Enthüller Hans Leyendecker vor allem eine Charakterfrage. „Bei uns wollen die Journalisten auf dem Schoß des Ministerpräsidenten sitzen und aufgeblasene Leitartikel schreiben oder im WDR-Presseclub darüber fabulieren, ob vielleicht der Eichel der bessere Finanzminister ist als es der Lafontaine geworden wäre, wenn …“, klagt der Top-Rechercheur in der journalistischen Fachzeitschrift „message“. Jene sturen Tüftler, die unermüdlich Aktenstudium betrieben und den Dingen bei wochenlangen Recherchen auf den Grund gingen, haben nach den Beobachtungen Leyendeckers in der Branche kein gutes Standing: „Die gelten in unserer Zunft als kautzig.“
Dass Journalisten bei ihren Recherchen Politikern mitunter allzu nahe treten, hat „Spiegel“-Reporter Dirk Kurbjuweit selbstkritisch bei dem Medientreffen „Cologne Conference“ konstatiert. Kurbjuweit erzählte, dass der Sänger Marius Müller-Westernhagen am Rande eines „Spiegel“-Gesprächs Bundeskanzler Gerhard Schröder samt Familie zum Urlaub auf sein italienisches Anwesen eingeladen habe. Doch Schröder habe sich erkennbar geziert, die großzügige Offerte anzunehmen. Offenbar aus Sorge vor kritischen Schlagzeilen vom Kaliber: „Kanzler-Urlaub auf Kosten eines Platten-Millionäres“. Die „Spiegel“-Edelfeder hält dies für ungute Ausflüsse des Affären-Journalismus: „Wir Journalisten sind überkritisch geworden und legen Maßstäbe an Politiker an, die wir ansonsten an keinen Menschen anlegen.“
Die Angst der Politiker vor den Journalisten hat nach Auffassung von Kurbjuweit dazu geführt, dass in den Geschichten über Regierungs- und Parteigrößen fast nurmehr „Bilder und Images“ vermittelt würden, „wir aber nicht den Menschen kennenlernen“. Eine skandalisierte Medienberichterstattung wie die „Mediengeilheit“ der Politiker habe zu einer unguten Verschlossenheit geführt: „Die Politiker verhalten sich extra für mich, sie verbergen alles Mögliche und schauspielern nur noch“, beklagt der „Spiegel“-Mann. Dies führe zwangsläufig zu „Hofberichterstattung“ und damit leide die Demokratie. Ein probates Mittel zur Überwindung dieser Misere hat Kurbjuweit nicht, doch eines ist für ihn klar: „Wir können unsere ganzen Zweifel nicht den Politikern überlassen, aber wir müssen uns immer dieser bewusst sein.“
Eine originelle Antwort hat FAZ-Sportredakteur Hans-Joachim Waldbröl auf die schwierige Frage gefunden, wie der Journalist mit einem sperrigen Spitzenathleten umgehen soll, der monatelang ein Interview verweigert. Immer wieder hatte der unter Dopingverdacht stehende Olympiasieger Dieter Baumann die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ mit ihren Interview-Anfragen abblitzen lassen, während er seine abgezirkelten Statements im Massenabwurf unter die Medien brachte. Unter der Headline „Wem würden Sie ihre Geschichte glauben, Herr Baumann?“ veröffentlichte FAZ-Redakteur Waldbröl schließlich „Zwölf Fragen an den dopingverdächtigen Langstreckenläufer, der einem Interview aus dem Weg geht“.
Viele Politiker verfahren nach dem Muster Baumann. In heiklen Situationen tauchen sie ab. Dass die Journalisten die Themen und den Zeitpunkt für ein Interview bestimmen, wird immer mehr zur Ausnahme. Häufiger lassen die Politiker bitten, wenn sie etwas zu sagen belieben. Alles ist sorgsam kalkuliert, das Interview mutiert zum billigen PR-Instrument. Spätestens bei der Autorisierung werden die rhetorischen Ecken und Kanten glattgefeilt. Die meisten Journalisten sind schon froh, wenn ihre Fragen die Nacharbeit in den Pressestellen im Originalton überstehen. Der Vorstoß des FAZ-Sports schreit deshalb auch in anderen Ressorts nach unbedingter Nachahmung.
- Der Autor, Johannes Nitschmann (44), ist hauptberuflich als Reporter bei der Zeitung „Die Woche“ tätig.