„Herausfordernde Zeiten“ sah Sascha Borowski, Sprecher des Deutschen Presserats, bei der Vorstellung des Jahresberichts 2021 in den vergangenen beiden Jahren. Herausfordernd für Gesellschaft, Journalismus und Presserat: Erst durch Corona und nun durch den Krieg in der Ukraine, der schon mehrere Beschwerden über Medienberichte zur Folge hatte. Kontinuität gibt es beim Verlag mit den meisten Verstößen gegen den Pressekodex: Es ist wieder Springer mit der Bild-Zeitung, der mit 26 Rügen den traurigen ersten Platz einnimmt.
Die Berichterstattung über die Pandemie habe für die Medien große Verantwortung bedeutet, erklärte Borowoski (DJV/ „Allgäuer Zeitung“). Doch die meisten Redaktionen seien dieser gerecht geworden, auch wenn medizinische Studien für viele Zeitungsredaktionen Neuland waren und hier ein Bedarf an mehr Fachkolleg*innen erkannt wurde. Insgesamt war Ziffer 14 des Pressekodex gegen unangemessen sensationelle und trügerische Berichterstattung aus dem medizinischen Bereich so oft wie nie bisher das Thema in den Beschwerdeausschüssen. Für Borowski bietet diese Richtlinie trotz Corona weiter „gute Leitplanken“ und müsse nicht überarbeitet werden.
Nach dem Rekordjahr 2020 mit 4085 Beschwerden ist die Zahl 2021 wieder auf 2556 zurückgegangen, die in den Ausschüssen behandelten Beschwerden sogar von 530 auf 501, erläuterte Pressesprecherin Sonja Volkmann-Schluck die Statistik des Jahresberichts. Bei Corona-Texten (457) konnten viele Eingaben wegen ideologischer Prägung der Beschwerdeführer aussortiert werden. Insgesamt wurden Dreiviertel aller Beschwerden als unbegründet abgewiesen, 60 schwere Verstöße gegen den Pressekodex gerügt, und damit sieben mehr als im Vorjahr.
Als Problem erwiesen sich vielfach zugespitzte oder verfälschende Überschriften, die etwa den Tod eines Krankenpflegers als Folge der Impfung darstellten. Gerügt wurden auch Überschrift und Artikel, die einem Arzt, der Vitamin D gegen den Corona-Tod empfahl, zu viel Raum gaben oder Berichte, die Studien falsch zitierten und Impfungen als Grund für ein höheres Ansteckungsrisiko nahelegten („Horror-Studie in Israel“).
Überschriften, die einen Atomkrieg beschwören, und unverpixelte Opferbilder waren Gründe für die Beschwerden in den ersten drei Kriegswochen. Hier erwartet der Presserat weitere Eingaben. Das Kriegsthema werde in der Juni-Sitzung behandelt. Eine geringere Rolle als in früheren Jahren spielte die Richtlinie 12,1 über die unangemessene Nennung von Herkunftsländern. Sie wurde nur 14 Mal herangezogen.
Während es 2020 über 400 offenbar verabredete „Sammelklagen“ gegen die taz gab, gingen dieses Jahr 94 dieser „Sammelbeschwerden“ beim Presserat ein. Sie betrafen den Bild-Artikel über Mediziner*innen als „Lockdown-Macher“. Hier werde am 24. März entschieden, eine öffentliche Rüge ist zu erwarten. Weitere gebündelte 22 Beschwerden und eine Rüge betrafen die Publikation des Bilds vom kleinen Jungen, der als einziger einen Seilbahnabsturz in Norditalien überlebte – auch wenn die Redaktion behauptete, dies sei mit den Verwandten abgesprochen gewesen.
Bisher sind von den Rügen im Jahr 2021 rund 80 Prozent veröffentlicht worden, wozu sich die Mitglieds-Medienhäuer des Presserats ja verpflichtet haben. Das sei besser, als in vergangenen Jahren, erklärte Presserats-Geschäftsführer Roman Portack. Weitere Veröffentlichungen seien demnächst zu erwarten. Im vergangenen Jahr seien nur drei der 53 Rügen nicht online oder per Print im gerügten Medium verbreitet worden. Auch hier erwarte man von der Bild-Zeitung noch Nachzügler.
Eine Vorgabe des Presserats gegen eine „falsche Balance“ in der Berichterstattung, die von Professorin Marlis Prinzing angemahnt wurde, lehnten die Mitglieder des Presserats ab. Es sei Aufgabe der Redaktionen, zu entscheiden, worüber sie wie berichteten. Es gehöre zum journalistischen Handwerk, dass die Position einzelner Klimawandel-Leugner und weniger „Spaziergänger“ gegen Corona-Maßnahmen nicht gleichwertig mit der Meinung der überwiegenden Zahl der Wissenschaftler*innen und Öffentlichkeit dargestellt würden. Geschähe dies, erklärte die Vize-Sprecherin Kirsten von Hutten (VDZ, Justiziarin bei Gruner & Jahr), sei dies ein Verstoß gegen Sorgfaltspflicht und Relevanz. Der Presserat orientiere sich aber am Einzelfall und „greift nicht in die redaktionelle Freiheit ein“, sagte Portack: „Wir können auch keine Beschwerden wegen Nicht-Berichterstattung annehmen.“ „Die Problematik ist bei den Redaktionen angekommen“, versicherte Borowski.