„Die Krise ist viel akuter, als wir sie wahrnehmen und die Medien sie abbilden“, kritisierte Sara Schurmann vom Netzwerk Klimajournalismus und kaperte ein prominent besetztes Podium zur Verantwortung der Medien. Bei der Jahreskonferenz des Netzwerks Recherche diskutierten Medienschaffende diesmal über die „Recherche in Krisenzeiten“ – von Klima-Notfall bis Ukraine-Krieg. Einige Schlaglichter auf die vielen konstruktiven Anregungen für die Berichterstattung.
Nach zwei digitalen Jahreskonferenzen in den Corona-Jahren fand das Journalist*innen-Treffen erstmals wieder in Präsenz beim NDR in Hamburg statt. In fast 100 Veranstaltungen – von Workshops über Podiumsdiskussionen bis zu Preisverleihungen – wurde die deutsche Medienlandschaft kritisch unter die Lupe genommen. Eines der populärsten Events war mit weit über 100 Teilnehmenden die Keynote von Maren Urner, Mitgründerin des Online-Magazins „Perspective Daily“ für konstruktiven Journalismus und seit 2019 Professorin für Medienpsychologie in Köln.
Ihren neurowissenschaftlichen „Realitycheck“ startete Urner mit der Feststellung: „Journalismus ist immer Aktivismus“, weil „jede Information unser Gehirn verändert“. Die genetisch unterschiedlichen grauen Zellen der Menschen mutierten ein Leben lang – durch gegenseitige Beeinflussung von gesammelten Erfahrungen und aktuellen Interaktionen mit der Umwelt. Das sei eine „Riesenchance, aber auch eine große Verantwortung!“
Verantwortung journalistischer Geschichtenerzähler*innen
Wie der Journalismus diese Verantwortung wahrnimmt, analysierte Urner anhand von drei Kernaufgaben: „Sagen, was ist“, „Relevantes abbilden“ und „Vierte Gewalt sein“. Bei der Beschreibung der Welt sei noch „viel Luft nach oben“, angesichts dessen, dass wir längst die „globale Stabilität verlassen haben, die unsere menschliche Existenz ermöglicht“. Gibt es Relevanteres als das Klima, wenn wir Ende dieses Jahres bereits „sechs von neun planetarischen Grenzen überschritten“ haben, fragte sie und kritisierte, dass Medien die Mächtigen angesichts der knappen verbleibenden Zeit zu wenig kontrollierten.
Das klassische „Sagen, was ist“ funktioniere nicht, weil das Hirn immer auch interpretiere. Deshalb sollten Journalist*innen bei der Faktenrecherche bewusster hinschauen, Fragen stellen und einordnen. Relevantes könne besser abgebildet werden, wenn Wörter und Bilder bewusster verwendet werden, verbunden mit der Frage „Welche Gruppen mache ich auf?“. Es gelte, möglichst viele Menschen einzuschließen, denn durch Zugehörigkeitsgefühl entstehe mehr Offenheit und Vertrauen. Letztlich gehe es um die Geschichten, die erzählt werden. Es seien Werte, die zum Geschichtenerzählen motivierten. Werte, die Menschen einzigartig machen, sind laut Urner Kooperationsfähigkeit, Vorstellungskraft und funktionierende soziale Beziehungen. Daran sollten journalistische Geschichtenerzähler*innen anknüpfen, wenn sie Gehirne veränderten.
Dabei gehe es vor allem darum, „eine klimarealistische Berichterstattung“ zu schaffen, sagte Urner, die Sara Schurmann vom Netzwerk Klimajournalismus mit aufs Podium holte, als Christina Elmer ein Panel über die Medienpraxis in Krisenzeiten eröffnete. Elmer, Professorin für Digitalen Journalismus an der TU Dortmund, erläuterte, die komplexen Themen Klima, Covid, Energie, Inflation oder Ukrainekrieg seien „häufig global angelegt und doch auch lokal deutlich spürbar“. Unabhängiger Journalismus werde da „relevanter für seine Publika, aber auch persönlich beängstigender“, sodass viele Menschen sehr bewusst mit Nachrichten umgingen, wobei etwa ein Drittel einfach abschaltete.
Ist das Publikum reif für klimarealistische Berichterstattung?
Wie sich diese Entwicklung in der Lokalberichterstattung niederschlägt, berichtete Hannah Suppa, Chefredakteurin der „Leipziger Volkszeitung“. Den Leuten werde es „zu viel mit den ganzen Krisen“. Konstruktive Alltagsthemen vor Ort seien stärker nachgefragt als die klassische News. Auf großes Interesse sei angesichts der extremen Trockenheit im Sommer etwa die Frage gestoßen, wie „Leipzig zur Schwammstadt“ wird.
Beim „Stern“ gehe es vor allem darum, „bestimmte Gruppen zu erreichen“, so Gregor Peter Schmitz, Chefredakteur des Magazins, sie „aus der Krisenmüdigkeit herauszuholen“ und über politische Lösungen zu streiten. Klaus Brinkbäumer, Programmdirektor beim MDR, berichtete, durch die Krisen hätten die Menschen noch mehr wirtschaftliche Probleme und „Sorgen, nicht mehr gehört“ zu werden. Da werde der Dialog mit dem Publikum immer wichtiger – wie ihn „MDR fragt“ praktiziert, ein Instrument für Umfragen zu Sachthemen. Mittlerweile hätten sich 62.000 Leute für diese Befragungen angemeldet, deren Antworten dann wieder im Programm aufgegriffen würden.
Als Schurmann und Elmer kritisierten, dass auch bei vielen Journalist*innen immer noch Grundlagenwissen zum Klima und damit eine gemeinsame Faktenbasis für die Berichterstattung fehle, entgegnete Brinkbäumer, der MDR biete Fortbildungen, ARD-weite Vernetzung und Programmschwerpunkte zum Thema – in allen Formaten. Auch Schmitz meinte, es gebe inzwischen „ein breites Verständnis von Klimakrise“, aber beim Umgang damit müsse es weiterhin Unterschiede geben zwischen dem Aktivismus, etwa von Fridays For Future, und dem Journalismus, der unterschiedliche Positionen in Politik, Wirtschaft oder Klimabewegung in den Diskurs einspeise. Er verglich die Klimakrise mit der Corona-Pandemie. Medien wurden sich damals einig, dass es „eine ernste Krise ist, auf die Gesellschaft kollektiv reagieren muss“. Danach habe dann „dosierte Kritik am WIE“ eingesetzt. Auch beim Klima gebe es einen Grundkonsens, aber kontroverse Diskussionen.
Chefredakteurin Suppa meinte, ein Konsens zum Thema in der Redaktion sei schön, man müsse aber aufs Publikum achten, das teilweise einen ganz anderen Stand in der Debatte habe und auch ernst genommen werden wolle. So habe ein Interview mit der Leipziger Studentin, die sich jüngst an das Gemälde „Die Sixtinische Madonna“ klebte, nicht die politische Dringlichkeit von Klimaprotesten transportiert, sondern die Leser*innen reagierten mit: “Das kann man so nicht machen, das ist strafbar!“ Als Regionalreporter*innen der Leipziger Volkszeitung mit Menschen auf „Energiedemos“ in Sachsen sprachen, meinten viele: „Schön, dass ihr nach unserer Meinung fragt!“ Suppa resümierte: „Wir müssen sie anhören und in inhaltliche Debatten treten!“
Elmer warnte vor einer False Balance, also fehlgeleiteter Ausgewogenheit in der Berichterstattung, wenn wissenschaftliche Fakten wie politische Meinungen debattiert werden. „Naturgesetze sind nicht verhandelbar. Da gibt es keine Konsensfindung“, erklärte Urner. Schurmann betonte, für sie gehöre zum Ernstnehmen normaler Menschen auch, ihnen die wissenschaftlichen Fakten zuzumuten und zu vermitteln, was das für ihr Leben bedeutet. Sie war optimistisch: Erkläre man den Menschen, wie ernst die Situation ist, „dann tragen sie auch radikale Veränderungen mit – wenn sie sozial gerecht umgesetzt werden!“ Urner lieferte das passende konstruktive Wording: „Klima-Notfall. Das bedeutet noch nicht Panik, da kann man noch was retten und Teil der Lösung sein!“
Netzwerk-Recherche-Preise: Leuchtturm und Verschlossene Auster
Der freie Journalist Arndt Ginzel wurde für seine Berichterstattung über den Ukraine-Krieg mit dem „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen 2022“ ausgezeichnet. Damit wollte NR auch alle Freien würdigen, die unter prekäreren Bedingungen recherchieren und berichten als ihre festangestellten Kolleg*innen. Als „Feind der Pressefreiheit“ habe Tesla-Chef Elon Musk die „Verschlossene Auster für den Informationsblockierer des Jahres“ mehr denn jeder andere verdient, so Kayhan Özgenç, Chefredakteur von „Business Insider“, in seiner Laudatio. Musk habe die PR-Abteilung abgeschafft und Journalist*innen bei der Eröffnung seiner Tesla-Fabrik in Grünheide/Brandenburg ausgesperrt.