Noch ein Stückchen?

Ich möchte zwei Vorurteile ausräumen. Erstens: Der Bürger findet Journalisten/innen lästig und traut ihnen nicht. Zweitens: Der Bürger weiß nicht, wie Freie leben. Stimmt beides nicht: Der Bürger freut sich über Journalisten/ -innen und er weiß von ihrer prekären freien Existenz.

Ich muß ständig fremden Menschen ins Haus fallen, weil ich für den Hörfunk „Betroffene“ brauche. Das geht von der Inkontinenzselbsthilfe über ehemalige Widerstandskämpfer, Existenzgründerinnen bis zu besonders aktiven Alten … Irgendwie kommt man an die Leute ran, verabredet sich, „dauert höchstens ein halbes Stündchen“. Nur selten bin ich über gemeinsame Bekannte empfohlen.
Und trotzdem: Nie, ich schwöre, wollte Jemand einen Ausweis sehen, niemals wurde beim WDR gefragt, ob ich die bin, die ich zu sein vorgebe. Im Gegenteil: Sie laden mich freundlichst in ihre Wohnzimmer und immer, ich schwöre, gibt es Wasser oder Kaffee oder Tee oder Plätzchen oder Kuchen. Erst gestern quälte ich mich mit einer Sahnetorte herum, es wurde für mich schon extra gebacken! Ich sehe nicht verhungert aus, aber die Menschen scheinen zu wissen, wie sehr wir Freien darben und da­rauf angewiesen sind, von unseren Interviewpartnern durchgefüttert zu werden.
Nicht nur das: Sie sind entsetzt, wenn ich dreimal umgestiegen bin („Ich hätte sie vom Bahnhof abgeholt!“) oder bewundern, dass man an den kleinen MD-Playern Knöpfe erkennen kann. Gut, ich habe viel mit Älteren zu tun, die noch wissen, was sich gehört. Junge aber sind genauso: Ein anonymer Alkoholiker von etwa 25 Jahren bot Krapfen an, bevor er von seiner Sucht erzählte.
Das Drama ist: Ich hasse Kuchen. Ich finde, ich kann mir erlauben, ab sofort zu sagen: „Wenn Sie übrigens etwas anbieten möchten, wäre mir ein Vollkornbrot mit Leberwurst sehr lieb.“

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Putins Geiseln

In Russland wurden Mitte Juli zwei westliche Journalist*innen aufgrund fingierter Anschuldigungen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Westliche Regierungen werden nun einen zynischen Deal mit dem Kreml eingehen müssen, um Evan Gershkovich und Alsu Kurmasheva freizubekommen. Doch gleichzeitig sollten sie klar machen, dass sie Putins „Verständnis“ von Journalismus nicht teilen.
mehr »

Recherchen für die Demokratie

Die Uhr tickt – politisch und ökologisch. „Der Ton wird rauer, die Angriffe intensiver“, so NDR-Intendant Joachim Knuth im Begrüßungsgespräch mit Daniel Drepper, dem Vorsitzenden der Journalist*innenvereinigung Netzwerk Recherche (NR), die ihre Jahreskonferenz unter das Motto stellte: „Now is the time. Recherchen für die Demokratie“. Etwa 900 Teilnehmende trafen sich beim NDR Fernsehen in Hamburg zu Austausch und Debatte über die Rolle der Medien in Zeiten des politischen Rechtsrucks und der Klimakrise. 
mehr »

Tarifbindung statt Mehrwertsteuersenkung

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder möchte Verlagen, “Begleitschutz” geben. Das hat er bei einer Veranstaltung des Medienverbandes der freien Presse kürzlich angekündigt. Diejenigen unter ihnen, die Presseerzeugnisse herausgeben, sollen nach dem Willen Söders von einer - weiteren - Senkung der Mehrwertsteuer profitieren.
mehr »

Filmschaffende kriegen künftig mehr

In der achten Tarifverhandlungsrunde für die rund 25.000 Filmschaffenden haben sich die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), die Schauspielgewerkschaft BFFS und die Produktionsallianz auf Eckpunkte einer vorläufigen Tarifeinigung verständigt. Doch nicht alle Verhandlungsthemen konnten geklärt werden. Die Frage nach der Regelung von Künstlicher Intelligenz (KI) im Film wurde verschoben.
mehr »