System kaputt? Digital Natives suchen neue Protestformen

Die re:publica möchte als Gesellschaftskonferenz verstanden werden, entsprechend breit war das Themenspektrum für die fast 7000 Teilnehmer. Gleich zum Auftakt hagelte es eine umfassende Systemkritik. Doch taugt das Netz noch als Protestmedium?

Mit dem diesjährigen Motto rückten die Veranstalter politische Fragen in den Vordergrund: „Finding Europe“ soll auf die Probleme der politischen Transformation Europas anspielen. Mitgründer und Netzaktivist Markus Beckedahl erklärte zur Eröffnung: „Die Rahmenbedingungen für die digitale Welt werden vor allem in Brüssel gemacht.“ Das trifft allerdings auch auf die Rahmenbedingungen jenseits des Digitalen zu.
Die in Brüssel getroffenen Entscheidungen erfolgen zwar im Namen, jedoch oft nicht im Interesse der EU-Bürger. Ethan Zuckerman kennt das aus der US-Politik. Für ihn lautet die Konsequenz: „Unser System ist so kaputt, dass wir ein neues Verhältnis zur Politik finden müssen“. Der US-Wissenschaftler und Netzaktivist holte in seiner Eröffnungsrede zur re:publica zum Rundumschlag aus: Er kritisierte Regierungen, Parteien, Unternehmen sowie Medien und konstatierte eine umfassende Vertrauenskrise. „Wir leben in einem Zeitalter des Misstrauens“, so Zuckerman, der das Center for Civic Media an der US-amerikanischen Universität MIT leitet. Die Menschen würden heute allen Institutionen misstrauen, sogar Nichtregierungsorganisationen.

Für Zuckerman sind die bekannten Protestformen wirkungslos, weil sie nicht zu signifikanten Änderungen führen. „Es ist sehr schwierig, Straßenprotest in politische Veränderung zu transformieren“, weil es den Aktivisten nur selten gelänge, eine gemeinsame Position zu entwickeln. Auch das Internet und die sozialen Netzwerke bildeten keine Lösung. Sie machten es zwar leicht, Protest zu organisieren, doch dessen Wirkung sei nicht nachhaltig.
Der MIT-Wissenschaftler sucht daher nach neuen Protestformen. Damit ist er jedoch weder der Erste noch der Einzige. „Wir brauchen einen dritten Weg“, fordert er. Der solle nicht so langsam und indirekt funktionieren, wie parlamentarische Oppositionen und auch nicht so schnelllebig und fragil sein, wie Straßenprotest. „Wir haben noch nicht die Werkzeuge, die nötig sind, um die Gesellschaft zu ändern“, meinte er. Die glaubt er in Anlehnung an Lawrence Lessig in Standards und Normen gefunden zu haben und setzt damit primär auf technologische Lösungen. Als Beispiel nannte er die TOR-Software, die sichere Kommunikation im Internet ermöglicht. Gleichzeitig wirft er der Technik-Gemeinde vor, vielfach naiv zu glauben, die neuen Möglichkeiten des Internets würden die Welt verbessern. Die dominierenden politischen und ökonomischen Kräfte hätten jedoch gelernt, die Möglichkeiten des Netzes für ihre Interessen zu nutzen.

Neue Protestformen hätte der Netzaktivist an gleicher Stelle bei der re:publica des letzten Jahres erleben können. Die Aktivistengruppe Yes Men zeigte, wie Protest auf amüsante Weise Öffentlichkeit und Irritation erzeugt: Sie geben sich als Regierungsmitarbeiter aus und verkünden politische Kurskorrekturen. Vielleicht überschätzt Zuckerman die Protestbereitschaft der Digital Natives. Deren mangelnde Protestbereitschaft kritisierte schon Sascha Lobo, ebenfalls im letzten Jahr. Für Lobo Anlass genug, seine diesjährige Rede für die Konferenz medial inszeniert abzusagen.

Deutschland erlebt gerade eine Streikwelle wie lange nicht mehr. Aber bis auf die Klagen vieler Teilnehmer über Anreiseprobleme wegen des Bahnstreiks war das kein Thema im vielfältigen Programm der Konferenz. Zuckerman symbolisiert ein Symptom der Netzwelt: Die politische Diskussion ist entfacht, doch noch bleibt sie allzu oft hinter dem aktuellen Stand der Debatte zurück. Die Verbindung von Netzpolitik und Gesellschaftskritik ist noch nicht gelungen. Allmählich wäre es an der Zeit für eine Keynote des Netztheoretikers Manuel Castells, der (bereits 2009 in seinem bisher nicht übersetzten Werk „Communication Power“) das Verhältnis von Machtstrukturen und Kommunikationsprozessen in der vernetzten Welt ausgiebig analysierte.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Kodex für mehr Respekt beim Film

Auf Initiative der Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, des Bundesverbands Schauspiel (BFFS) und Allianz Deutscher Produzentinnen und Produzenten – Film, Fernsehen und Audiovisuelle Medien hat eine Gruppe aus Branchenvertreter*innen von Verbänden, TV-Sendern, Streamingdiensten, Förderern und unter Beteiligung der BKM, der Themis Vertrauensstelle e. V. und der BG ETEM nach über einem Jahr gemeinsamer Beratung heute den Respect Code Film (RCF) beschlossen.
mehr »

Mit Recht und Technik gegen Fake News

Als „vielleicht größte Gefahr“ in der digitalen Welt sieht die Landesanstalt für Medien NRW (LFM) die Verbreitung von Desinformationen. Insbesondere gilt das für die Demokratische Willensbildung. Daher wird die Aufsichtsbehörde ihren Scherpunkt im kommenden Jahr genau auf dieses Thema richten. Aber wie kann man der Flut an Fake News und Deep Fakes Herr werden?
mehr »

Buchtipp: Missbrauch, Macht & Medien

Zwei Bücher, ein Thema: Juliane Löffler und Thomas Gottschalk beschreiben aus völlig unterschiedlichen Perspektiven, wie sich Gesellschaft und Medien in den letzten Jahren unter anderem durch den Einfluss der MeToo-Bewegung verändert haben. Während Löffler den unverhohlenen männlichen Machtmissbrauch akribisch recherchierte, sorgt sich Gottschalk um seine Privilegien.
mehr »

News-Junkie versus Nachrichtenvermeider

Eine Sonderausstellung im Museum für Kommunikation Berlin gibt Einblicke in die Geschichte der Nachrichten und unser Verhältnis dazu. Nie war es leichter, sich über das Weltgeschehen zu informieren als heute. Nie gab es mehr Medien und Formate, über die wir jederzeit und überall Nachrichten abrufen können. Doch wie können wir uns in diesem Dschungel zurechtfinden? Wie können wir gute Nachrichten produzieren?
mehr »