Wie soziale Medien Moralpanik befeuern

„Man kann autoritär-populistische Kommentatoren nicht überzeugen“, sondern nur den anderen „den Rücken stärken“. Zu diesem Schluss kommt der Politologe Nikolai Huke nach einer Analyse von Facebook-Debatten auf der Seite des grünen Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer. Die Lokalpresse berichte weitaus „entspannter“ und differenzierter über Flucht und Migration als soziale Medien, die Moralpaniken befeuern, stellt der Analyst fest. Er hat die Funktionsweise solcher Phänomene auf verschiedenen Medien verglichen.

Moralpaniken bezeichnen hier gesellschaftliche Prozesse, bei denen eine Gruppe – in diesem Fall Asylsuchende – als fremd und gefährlich für die moralische Ordnung abgestempelt werden. Ziel des öffentlichen Aufruhrs ist die Unterbindung eines als Bedrohung empfundenen Verhaltens auf langfristige Sicht. Huke hat im Rahmen des Projekts „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ Diskurse über vier Ereignisse im Regierungsbezirk Tübingen unter die Lupe genommen. Es handelt sich dabei um den „Dönermesser-Mord“ 2016 in Reutlingen, Vergewaltigungen in Tübingen zwischen 2015 und 2017, Kriminalität in Sigmaringen ab 2017 und sexualisierte Gewalt im selbstverwalteten „Epplehaus“ in Tübingen 2017.

Generalverdacht und Äquivalenzketten

In allen vier Debatten dominierten Männer. 70 bis 80 Prozent der Facebook-Kommentare stammten von ihnen, stellte Huke Ende September in einem Vortrag auf einer Tagung in Tübingen fest. Unter der Headline „Amoklauf in der Nachbarstadt“ postete Palmer 2016: „Das Gefühl, die Ereignisse verdichten sich und kommen näher lässt sich gar nicht vermeiden. Ebenso wie die Frage, dass in Würzburg ein Afghane, in München ein Deutsch-Iraner und in Reutlingen ein Syrer mit Waffen auf Menschen los sind.“ Damit stellt er die Gruppe der Asylsuchenden und Migrant_innen unter Generalverdacht, eine Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung in Deutschland zu sein. Unmoral, Gewalt und Kriminalität werden im Prozess der Moralpanik nicht dem einzelnen Täter, sondern einer sozialen Gruppe zugeschrieben. So wird diese bei der kleinsten Regelverletzung zum Sündenbock für gesellschaftlichen Verfall.

„Sigmaringen. Bahnhof. Fünf junge Männer. Offensiver Auftritt. Kontrolle im Zug: Keiner hat einen Fahrschein. Zugfahrten haben sich verändert in den letzten Jahren. Ist es rassistisch, das zu beschreiben?“ Mit diesen Worten interveniert Palmer 2017 in die Debatte um Kriminalität und Geflüchtete in der Landeserstaufnahmeeinrichtung (LEA) in Sigmaringen. Damit setzt er einen für die Entstehung von Moralpaniken wichtigen Mechanismus in Bewegung: Äquivalenzketten zwischen Schwarzfahren, Kriminalität, Gewalt, Gangs und schließlich Terroranschlägen. So schreibt er z. B.: „Schwarzfahren ist nur ein Randaspekt. […] Ich weiß, dass in Sigmaringen eine grosse Gruppe von Asylbewerbern aus dem Maghreb massiv für Ärger gesorgt hat. Auch in der LEA. Da entsteht ein Bedrohungsgefühl“. Dieser Aspekt wird in Folgekommentaren aufgegriffen und durch die Gleichsetzung verschiedener Ereignisse in einer Äquivalenzkette symbolisch verbunden – etwa von Stefan Bauer: „Und dabei geht es nicht nur ums Schwarzfahren (…). Gerade die muslimisch geprägten Personen sind für Terroranschläge bereit (z.B. Paris, Nizza, Berlin, Würzburg usw.), was in keinster Weise hier zu uns nach Deutschland passt.“

Faktenresistenz und „Echokammern“

Diese Zuspitzung und Verengung von Deutungsrahmen, eigentlich Kennzeichen von Sensationsberichterstattung in TV- und Printmedien, finde sich erstaunlicherweise häufiger in sozialen Medien, denn diese seien oft „weniger pluralistisch und dialogisch angelegt“, schreibt Huke in einem noch nicht veröffentlichten Text über Moralpaniken. Zudem seien zumeist Nutzer miteinander verbunden, die ähnliche Positionen vertreten („Echokammern“), und die Algorithmen der Seiten bevorzugten Inhalte, die für den Nutzer aufgrund seines Nutzungsverhaltens von Interesse sind („Filterblasen“).

Das verdeutlicht Huke am Beispiel von Beiträgen über Vergewaltigungen in Tübingen, indem er Lokalpresse und Facebookeinträge miteinander vergleicht. „Vergewaltiger aus Gambia gefasst. Wir brauchen auch bei der Tübinger Polizei mehr Stellen. Tübingen war eine der Städte, in denen Frauen sich ohne Angst frei bewegen konnten. Das hat sich leider verändert“, kommentiert Palmer das Ereignis 2017 auf Facebook. Das „Schwäbische Tagblatt“ zitiert Palmers Aussage, dass Tübingen früher sicherer war, und konfrontiert sie mit der Kriminalstatistik, auf die der Polizeipressesprecher hinweist: „Die Tübinger Zahlen bei den Sexualdelikten sind in keiner Richtung auffällig oder gar alarmierend oder begründen gar eine erhöhte Gefährdungslage.“

Doch auf Facebook werden solche Fakten mit Verweis auf den vermeintlich gesunden Menschenverstand zurückgewiesen, z. B. von Werner von Fernher: „Ihr müsst […], Studien erstellen, ob es einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und wachsender Kriminalität ging. Da braucht man doch nicht kompliziert werden und Studien erstellen. Ein gesunder Menschenverstand sieht den Zusammenhang auch so, aber er muss es wollen.“ Svetlana Kljajic entgegnet: „Erfahrungsgemäß melden mehr als 3/4 aller Vergewaltigungsopfer die Straftat nicht! Daher hilft da auch keine Polizei! […] Und ein weitaus größeres Problem, das Boris Palmer ausser Acht lässt, die meisten Vergewaltigungen finden innerhalb der eigenen Familie statt und das werden keine Abschiebungen und sonst welche Maßnahmen verhindern.“ Palmer weist die Kritik zurück. Diese „Art der Relativierung“ sei „blind für die reale Entwicklung und verhöhnt die Opfer“.

Die Folge solcher von Moralpaniken getriebenen Debatten ist ein autoritär verengter Diskursraum, den zwei Frauen anprangern: “Hier findest du überwiegend Rassisten und wer hier Boris Palmer widerspricht und dann noch eine Frau ist, muss mit einem Shitstorm rechnen… Es gibt hier einige Bots und Fakeprofile, mit Diskussion geht hier gar nichts.“

 

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