„Ach, der Journalismus …“

Zermahlen im Alltäglichen des Sensationellen

Der ehemalige Stern-Auslandsreporter Gerhard Kromschröder mutmaßt in seinem Buch „Ach, der Journalismus – Glanz und Elend eines Berufsstandes“ (M 06/ 2007) über den Lokaljournalismus, „dass das oft geschmähte Lokale vielleicht die Königsdisziplin des Journalismus sein könnte.“ Genau diesem Gedanken hat sich der Harburger Journalist Rainer Jogschies in seinem jüngsten Buch „21 HAMBURG 90 – Reportagen“ (Nachttischbuch-Verlag, 19.80 Euro) verschrieben.

Rainer Jogschies: 21 Hamburg 90

2190 ist die Postleitzahl des Hamburger „Stadtteils“ Harburg, einem Ort, der nach dem 11. September wegen der TU-Studenten Atta & Co durch die Weltpresse ging. Doch Harburg ist mehr, es ist ein eigenständiges Gebilde südlich der Elbe, das erst 1937 durch das Groß-Hamburg-Gesetz Teil der Hansestadt wurde. Harburg blieb ein lokaler Mikrokosmos, zwar verwaltungstechnisch abhängig von der Hansestadt im Norden, aber dennoch eigenständig. In diesem Lokalen spielen und spiegeln sich die Reportagen von Rainer B. Jogschies.
Es sind lokale, unspektakuläre Features, Reportagen und Kommentare über Begebenheiten wie sie täglich in der ganzen Republik vorkommen, über die aber, wenn es hochkommt, meistens nur eine Meldung erscheint, da sie eben nicht spektakulär sind: NPD-Demonstrationen und Nazi-Aufmärsche, auf denen von der Polizei unbehelligt rechtsradikale Hetze verbreitet werden kann. Ein Kriegsdienstverweigerer, der vor den Feldjägern flieht und sich an ein Kirchenkreuz ankettet. Daimler-Arbeiter, die zwar nicht streiken, aber dennoch ausgesperrt werden und denen die Arbeitsagentur jegliche Unterstützung verweigert. Alteingesessene Anwohner, die aus ihren Dörfern Moorburg oder Altenwerder vertrieben werden, um einer gigantischen, umstrittenen Hafenerweiterung und giftigem Baggerschlamm aus der Elbe Platz zu machen. Oder immer wieder Geschichten vom Statthalter Hamburgs, der offiziell Bezirksamtsleiter genannt wird und vom Hamburger SPD-Filz über die Elbe gespült wurde.
Es sind alles mehr als eine pure Sammlung alter Reportagen aus ran, Vorwärts, Deutschem Allgemeinen Sonntagblatt, Stern oder taz. Mehr als vergangene Lokalreportagen, denn Jogschies begnügt sich nicht damit, seine alten Werke noch einmal aufleben zu lassen. Er arbeitet an ihnen, stellt sie im Anhang in ihren Auswirkungen auf das Heute vor. Er beschreibt, was aus seinen alten Protagonisten und ihren Problemen geworden ist. Er hat sie über all die Jahre in dem Mikrokosmos Harburg begleitet, ihr Engagement jenseits der Tagesaktualität erneut beleuchtet. Sein Buch ist auch eine „weitgehende Medienkritik, die eine andere Taktung des journalistischen Arbeitens fordert und für einen längeren Atem plädiert.“
Der Autor: „Am Beispiel des unbekannten und doch irgendwie weltbekannten Stadtteils Harburg lässt sich eines herauslesen: Die Abfolge, wann aus Anlässen in einer Alltagsumgebung Aktualitäten gepresst werden, wurde immer schneller. Und immer rascher vergessbar statt als Lehrstück erinnerbar. Die demokratische Öffentlichkeit wird so im Alltäglichen des ‚Sensationellen’ zermahlen.“

Wulf Beleites

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Kriminalität nicht mit Migration verknüpfen

Kriminelle Migranten bedrohen die Sicherheit in Deutschland“ – dieses alte rechte Narrativ wird von der AfD neu belebt und verfestigt sich in der Mitte von Gesellschaft und Politik. Medien, die diese realitätsverzerrende Erzählung bedienen, weil sie meinen, die laute Minderheit repräsentiere ein öffentliches Interesse, spielen mit dem Feuer.
mehr »

Mit BigTech gegen Pressefreiheit

Der Vogel ist frei“ twitterte der US-Milliardär und Big Tech-Unternehmer Elon Musk am 28. Oktober 2022, dem Tag seiner Übernahme des Kurznachrichtendienstes Twitter, der damals noch den blauen Vogel als Logo hatte. Der reichste Mann der Welt wollte nach eigener Aussage den Dienst zu einer Plattform der absoluten Redefreiheit machen: „Freie Meinungsäußerung ist die Grundlage einer funktionierenden Demokratie, und Twitter ist der digitale Marktplatz, auf dem die für die Zukunft der Menschheit wichtigen Themen diskutiert werden“, hatte er zuvor erklärt.
mehr »

Vernetzte Frauen im Journalismus

Sich als Frau in einer Branche behaupten müssen, in der Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein entscheidende Faktoren sind: Für Generationen von Journalistinnen eine zusätzliche Belastung im ohnehin schon von Konkurrenz und Wettbewerb geprägten Beruf. Angesichts dieser Herausforderung sind Netzwerke und solidarische Bündnisse von großer Bedeutung. Der Journalistinnenbund (JB) hatte hierbei seit seiner Gründung im Jahr 1987 eine Vorreiterrolle inne. Sein Anliegen: Geschlechtergleichstellung in den Medien erreichen.
mehr »

In den eigenen Räumen etwas bewegen

Stine Eckert forscht zu Geschlechterkonstruktionen in den Medien am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Wayne State University in Detroit. Ihr Buch „We can do better“ versammelt  „feministische Manifeste für Medien und Kommunikation“. Mit Ulrike Wagener sprach sie für M über die Verbindung zwischen Universitäten und Aktivismus und die Frage, wo Medien und Medienschaffende etwas verändern können.
mehr »