Buchtipp: Brüssel sehen und sterben

Ein Satiriker, der in das EU-Parlament einzieht, war der Hamburger Nico Semsrott, als er vor fünf Jahren gemeinsam mit dem ehemaligen Chefredakteur der Satire-Zeitschrift „Titanic“, Martin Sonneborn, für DIE PARTEI bei der Europawahl 2,4 Prozent der Stimmen erhält – und damit immerhin von 900.000 Menschen einen politischen Auftrag, wie Semsrott es versteht. DIE PARTEI hat neben Witzen nämlich auch den Kampf gegen Lobbyismus, Autokraten und gegen Rechts im Programm. Eine Legislatur später ist Semsrott desillusioniert und erleichtert, dass er schon während seiner Amtsausübung die feste Entscheidung gefällt hat, nicht wieder zur Wahl anzutreten.

In seinem gerade erschienenen Buch „Brüssel sehen und sterben – wie ich im Europaparlament den Glauben an (fast) alles verlor“ hat der 38-Jährige seine Erfahrungen als „Hinterbänkler“ verarbeitet – und damit zugleich eine Art Schaufenster in eine Welt geöffnet, die nicht nur vielen Wähler*innen, sondern auch vielen Journalist*innen unbekannt ist. Medienschaffende sollten es unter anderem lesen, weil es aus der Innensicht Semsrotts Auskunft gibt über ein politisches Gremium, das in seinen Grundzügen nachweislich intransparent agiert und Pressevertreter*innen im besten Fall zugesteht, Verkündungsjournalismus zu betreiben. Deren eigentliche Aufgabe – kritisch Entscheidungsprozesse zu begleiten – wird hingegen unter anderem deshalb systematisch blockiert, weil Beschlüsse unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt werden. Dies dürfte zumindest einer der Gründe sein, warum diese „komplexe, entfremdete Welt“ so schwer zu erklären ist. Dazu kommt: Die vielen, auch für EU-Neulinge wie Semsrott undurchschaubaren Regeln bezüglich der Verteilung und Verwaltung von Geldern lassen ein Milieu zu, das Korruption und Lobbyismus in weitaus größerem Maß begünstigt.

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Die Stichworte lauten „Freiwillige Selbstkontrolle“ und „Regeln für Kostenerstattungen“. Was darüber hinaus immer wieder an die Öffentlichkeit dringt oder was auch Semsrott am Beispiel von mehr oder weniger bekannten Mitgliedern des Europäischen Parlaments beschreibt, sind Veruntreuungen, die immer wieder auch mit Gefängnisstrafen enden. Was nicht heißt, dass Verurteilte, wie zum Beispiel der griechische Rechtsextreme Ioannis Lagos, dem wiederum die Beteiligung am Mord an einem linken Musiker nachgewiesen werden konnte, dadurch etwa ihr Mandat verlieren würden. Was immer heißt: Bezüge laufen weiter, der politische Einfluß besteht fort. Die Netzwerke können weiter ungestört funktionieren. Angesichts des Falls der griechischen Sozialdemokratin Kalai, die als Vize-Präsidentin des EU-Parlaments mutmaßlich mehrere Hunderttausend Euro Bestechungsgelder aus Katar erhalten hat, sprach Michiel van Hulten, selbst ehemaliger EU-Abgeordneter und Leiter des Brüsseler Büros von Transparency International, von einer „Kultur der Straflosigkeit“.

Auch das Ausmaß, in dem sich Abgeordnete mit einem monatlichen Nettogehalt von über 5.000 Euro ihre sogenannten Nebentätigkeiten bezahlen lassen, macht Semsrott fassungslos. Nun arbeiten in Brüssel bekanntlich zahlreiche Journalist*innen, dennoch dringt abseits der erwähnten Skandale wenig von dieser alltäglichen Bereicherung nach außen. Die Arbeit der Korrespondent*innen wird wertschätzend erwähnt – insofern sie diese nicht als Sprungbrett nutzen, um ausgestattet mit Insiderwissen anschließend in die Presseabteilung irgendeiner Fraktion zu wechseln. So geschehen im Fall von Peter Müller, der 10 Jahre für den Spiegel in Brüssel saß und dann ab 2020 drei Jahre als Kommunikationsberater und Redenschreiber für die Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen (CDU) arbeitete. Inzwischen ist Müller Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen.

Semsrott selbst trat 2021 aus der PARTEI aus, weil er nicht einverstanden war, wie sein Fraktionskollege Sonneborn mit Rassismus-Vorwürfen umgeht. Sein Mandat behielt er, weil sich an seinen politischen Zielen dadurch nichts änderte. Aber die Idee eines menschenwürdigen Lebens für alle im Angesicht von Klimakrise und Hyperkapitalismus gerade in einem zunehmend von rechten Kräften dominierten Gremium und unter dem Druck einer willkürlichen und zugleich machtvollen Verwaltung zu vertreten, ist eine Mammutaufgabe. „Inzwischen bin ich mir sicher, dass es nicht möglich ist, den ganzen Kram, den die EU-Politik darstellt, vernünftig zu übersetzen“, resümiert Semsrott. Man müsse über Jahre ein gänzlich nicht vorhandenes Wissen sogar bei der eigenen Zielgruppe aufbauen. Ob man an die Idee einer europäischen Zusammenarbeit glaubt oder nicht, sein Buch ist eine interessante und amüsante Sammlung von Eindrücken aus einer Politik-Welt, für die es kaum gelingt, jemanden zu interessieren und an der doch soviel Zukunft hängt. Man könnte meinen, es müsste deutlich mehr der in Brüssel Tätigen ein Anliegen sein, ihre Arbeit, die mit Milliarden von Steuergeldern aus allen EU-Ländern finanziert wird, so transparent und anschaulich, also „bürgernah“, darzustellen.

 

 

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