Außerordentlicher Gewerkschaftstag der IG Medien in Kassel – Auch die anderen beteiligten Gewerkschaften gaben grünes Licht für die weiteren Verhandlungen über die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Die Industriegewerkschaft Medien wird den weiteren Weg zu ver.di, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, auf der Grundlage der bisher erreichten Verhandlungsergebnisse mitgehen. Das haben die 286 Delegierten aus allen Landesbezirken und Fachgruppen während des Außerordentlichen Gewerkschaftstages (vom 18. bis 20. November 1999) in Kassel bei wenigen Gegenstimmen mit großer Mehrheit beschlossen – bei aller Kritik und Skepsis, die während des Kongresses laut geworden waren. Allerdings wurden dem Geschäftsführenden Hauptvorstand allerlei Verhandlungsaufträge erteilt mit dem Ziel, die Bedingungen für ein endgültiges Ja zur Megagewerkschaft mit 3,2 Millionen Mitgliedern noch zu verbessern.
Im Sommer nächsten Jahres wird dann ein weiterer Außerordentlicher Gewerkschaftstag die bis dahin erzielten Ergebnisse unter die Lupe nehmen, bevor im Frühjahr 2001 die Verschmelzung mit der Deutschen Angestelltengewerkschaft (DAG), der Deutschen Postgewerkschaft (DPG) , der Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherungen (HBV) und der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) und damit die Auflösung der IG Medien vollzogen werden kann.
Zeitgleich mit dem IG-Medien-Kongreß in Kassel gaben auch die Delegierten der Außerordentlichen Gewerkschaftstage der DAG, der DPG, der HBV und der ÖTV jeweils mit breiter Mehrheit grünes Licht für die weiteren Verhandlungen. Allerdings hängten die ÖTV-Delegierten die Hürden für ihren Vorstand dabei recht hoch. Alle fünf Organisationen haben auch die notwendigen Satzungsänderungen beschlossen, um so bald wie möglich die „Gründungsorganisation ver.di“ ins Leben rufen zu können, und sie haben sich in eingetragene Vereine (e.V.) umgewandelt, um die juristischen Voraussetzungen für die Übergangsorganisation zu erfüllen. So ist auch gewährleistet, daß alle Tarifverträge reibungslos auf ver.di übertragen werden können.
Leidenschaft und Begeisterung wollten sich nicht einstellen
Der Außerordentliche Gewerkschaftstag der IG Medien zeichnete sich durch kühle Nüchternheit der Beteiligten aus. Vielen Delegierten dauerten die Debatten und Beschlußfassungen um Organisations- und Satzungsfragen zu lang, sie hätten lieber um die politisch-inhaltlichen Grundlagen des ver.di-Projekts gestritten. Leidenschaft und Begeisterung wollten sich in der Kasseler Stadthalle auf dem Weg zu ver.di nicht so recht einstellen. Der Verstand sagte Ja, das Herz sorgte sich um den Verlust von in Jahrzehnten Vertrautem und Liebgewonnenem.
Zum Auftakt des Außerordentlichen Gewerkschaftstages hatte IG-Medien-Vorsitzender Detlef Hensche den Delegierten noch einmal ausführlich den aktuellen Verhandlungsstand und die Gründe für die geplante gewerkschaftliche Neuordnung erläutert. Die Veränderung ganzer Branchen, die Verflüssigung ihrer Grenzen, neue Formen der Arbeitsorganisation, Team- und Projektarbeit, freiberufliche Arbeit und vieles andere mehr, dies alles setze die Gewerkschaften unter einen doppeltem Veränderungsdruck, so Hensche: „Zum einen lösen sich die jahrzehntelang verläßlichen Grundlagen gewerkschaftlicher Gestaltungsmacht auf, zum anderen werden die Anforderungen an die gewerkschaftliche Arbeit vielfältiger, setzen spezialisierte Dienste voraus und den Mut, Neuland zu betreten.“
Die eigentliche Antwort auf diese Entwicklung wäre nach Auffassung des IG-Medien-Vorsitzenden eine grundlegende Reform des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter Einschluß seiner Umwandlung in eine Mitgliedergewerkschaft. Die IG Medien werde nicht müde werden, darauf zu drängen; doch derzeit fänden diese Reformüberlegungen im DGB keine Mehrheit.
Gewerkschaftliche Basis verbreitern
Die IG Medien beteilige sich an der Neuordnung der Gewerkschaften im Dienstleistungsbereich, um den Mitgliedern weiterhin erfolgreich zur Seite zu stehen, erfolgreicher noch als bisher: „Wir müssen beispielsweise kompetente Beratungsdienste anbieten. Das damit erforderliche Maß an Spezialisierung ist jedoch unterhalb einer gewissen Größe schwer zu erreichen. Die gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit steht und fällt damit, daß wir auch in sogenannten neuen Berufen und Branchen vertreten sind, daß wir also unsere gewerkschaftliche Basis verbreitern. Wir selbst erleben die Gewichtsverlagerung in neue Sektoren derzeit im Kommunikationsbereich, an der Schnittstelle zwischen Telekommunikation, Print- und elektronischen Medien, also quer zu bestehenden Branchen.“ Schließlich und endlich gehe es auch darum, daß sich die Gewerkschaften nicht in unseliger Konkurrenz wechselseitig schwächen.
Der IG-Medien-Vorsitzende ging auch auf die Frage ein, was passiert, wenn der ver.di-Prozeß scheitert. Eine Erfolgsgarantie für das Gelingen gebe es nämlich noch nicht: „Um es beim Namen zu nennen: Wenn es eine Sollbruchstelle gibt, so ist es die noch nicht restlos bearbeitete Konkretisierung der sogenannten Matrixorganisation, also das gleichgewichtige Verhältnis zwischen Gesamtorganisation und Fachbereichen. Gelingt dies nicht, scheitert ver.di.“ Dies hätte unabsehbare Folgen. Hinsichtlich der Reformfähigkeit der Gewerkschaften bliebe ein Scherbenhaufen übrig, so Hensche, aber: „Die IG Medien wäre weiterhin handlungsfähig. Es gibt keinen Grund, in Panik zu verfallen. Die IG Medien ist ihren Aufgaben bisher nachgekommen; sie war und ist streikfähig; der Streikfond weist ein beruhigendes Guthaben aus.“
Seitdem die ehemals sieben, nunmehr fünf Gewerkschaften das Projekt einer Neuorganisation in Angriff genommen hätten, so Hensche, sei es durchaus gelungen, sich auf wesentliche Prinzipien und Gestaltungselemente der neuen Gewerkschaft zu verständigen: „In vielen Details konnten wir unsere Vorstellungen verwirklichen. Das vorliegende Zielmodell trägt in wichtigen Passagen durchaus die Handschrift der IG Medien.“
Unterschiedliche Interessen prallen aufeinander
Der Realitätssinn gebiete es allerdings, sich darauf einzurichten, daß alle fünf Gewerkschaften von den Kongressen Beschlüsse in ihrem Verhandlungsgepäck mitbekommen, die nochmals konfliktreiche Gespräche auslösen werden. Doch das sei nun einmal eine normale Begleiterscheinung bei einem so komplizierten Prozeß.
Derzeit prallen, wie Hensche hervorhob, in zwei konkreten Fragen die unterschiedlichen Interessen aufeinander: bei der Bezirksbildung (also bei der Frage, wieviele solche Untergliederungen es geben und was ihre Funktion sein soll) und hinsichtlich der Budgetierung (also bei der Verteilung der Geldmittel auf die Fachbereiche und die regionalen Gliederungen. Der IG-Medien-Vorsitzende: „Für uns ist die Frage, wieviel Bezirke es gibt, eher zweitrangig, obwohl auch wir dazu neigen, eine bestimmte Größe nicht zu überschreiten. Wichtiger für uns ist, daß jedenfalls die Fachbereiche die Möglichkeit haben müssen, auch bezirksübergreifend, etwa über das Gebiet von zwei oder drei Bezirken hinaus sich zu konstituieren. Und sie müssen das Recht haben, die hauptamtliche Arbeit einschließlich der Personalsteuerung bezirksübergreifend, und zwar im Kern auf der Landesbezirksebene vorzunehmen.“
Was die Budgetierung angeht, erläuterte Hensche: „Die besten Aufgabenkataloge und die beste Beschreibung von Kompetenzen, wie im Zielmodell geschehen, bringen nicht viel, solange nicht die materielle Grundlage geschaffen ist: in Gestalt von Finanzzuweisungen und Personal.“
Fundamentale Kritiker des ver.di-Prozesses in der absoluten Minderheit
Mit dem Zeitrahmen und der Organisationshuberei hatte Hensche auf dem Kongreß Reizworte für die innergewerkschaftlichen Kritiker des ver.di-Prozesses geliefert. „Die Zeitschiene,“ und damit meinte sie den enormen Zeitdruck, unter den die Vorstände die fünf beteiligten Gewerkschaften und sich selbst mit dem ver.di-Prozeß gesetzt haben, „ist ein absolutes Unding,“ sagte Constanze Lindemann aus Berlin. Auch Paul Günter Wülfrath aus Wuppertal beklagte den „unendlichen Schweinsgalopp“, fühlte sich unsicher und fragte: „Sind wir als Delegierte noch der Souverän der IG Medien, oder sind wir nur Abnicker?“
Zu den wenigen fundamentalen Kritikern des ver.di-Prozesses gehört Horst Gobrecht aus Wiesbaden: Seit dem letzten Gewerkschaftstag der IG Medien seien bewußt Fakten geschaffen worden, „die den Fusionsprozeß sowohl materiell als auch im Bewußtsein der Mitglieder unumkehrbar machen sollten“. Gobrecht: „Heute bleibt den Delegierten scheinbar keine andere Wahl mehr, als die Fusion ohne Wenn und Aber zu akzeptieren.“ Es frage sich bloß: „Welchen Sinn hat dieser Kongreß, wenn für die potentiellen Entscheidungen schon vorher ein äußerst enger Rahmen abgesteckt wurde? Die Delegierten dürfen mal wieder Dampf ablassen.“
Daß Gobrechts Meinung die einer kleinen Minderheit war, zeigte die folgende Antragsdebatte. Mehr als 150 Anträge zum Thema Neuordnung der Gewerkschaften lagen den Delegierten vor. Debatte und Beschlußfassung dauerten eineinhalb Tage. Zunächst wurden Anträge behandelt, die sich mit Details des ver.di-Prozesses befaßten, bevor es eine Schlußabstimmung zum Grundsätzlichen gab. Dem Geschäftsführenden Hauptvorstand der IG Medien wurden dabei – mitunter durchaus gegen die Empfehlungen der Antragskommission – etliche Verhandlungsaufträge mit auf den Weg gegeben, zum Beispiel:
- Die neue Gewerkschaft, so forderten die Kasseler Delegierten, müsse sich „als Kampforganisation und Einheitsgewerkschaft mit dem Prinzip ein Betrieb – eine Gewerkschaft‘ verstehen“. Hierzu gehöre „das Selbstverständnis der politischen Gegenmacht mit dem Ziel der Verbesserung von Lebens- und Arbeitsbedingungen und einer Veränderung des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems im Interesse der abhängig Beschäftigten, Freien und Erwerbslosen.“ Die neue Gewerkschaft müsse ein antikapitalistisches, antirassistisches und antisexistisches Selbstverständnis haben und aktiv gegen Nationalismus, Militarismus und Antisemitismus eintreten.
- Arbeitslose sollen auf allen Ebenen der ver.di-Gesamtorganisation das Recht haben, Arbeitslosenausschüsse mit eigenen Budgets zu bilden.
- Bei der Entscheidung über Arbeitskampfmaßnahmen und die erforderlichen finanziellen Mittel sollen die Fachbereiche und die zuständigen Tarifkommissionen eine maßgebende Mitbestimmung erhalten. Die Tarifkommissionen sollen neben der Kündigung von Tarifverträgen, den aufzustellenden Forderungen und der Annahme von Verhandlungsergebnissen auch über das Scheitern von Verhandlungen entscheiden können.
- Zum insbesondere zwischen den Gewerkschaften ÖTV und HBV umstrittenen Thema der Bezirksbildung sprachen sich die Kasseler Delegierten der IG Medien dafür aus, maximal 100 Bezirke von ver.di im Bundesgebiet zu bilden.
- Der erste ordentliche Bundeskongreß soll spätestens drei Jahre nach dem Gründungskongreß stattfinden. Danach soll der Bundeskongreß alle vier Jahre tagen. Bisher waren vier bzw. fünf Jahre in der Diskussion.
- Um „den demokratischen Willensbildungsprozeß in einer Gewerkschaft mit mehr als drei Millionen Mitgliedern zu gewährleisten“, sei eine Dezentralisierung in den Entscheidungs- und Organisationsstrukturen wichtige Voraussetzung, beschloß der Gewerkschaftstag in einer Kampfabstimmung. Dezentrale Standorte der Fachbereichsvorstände seien gewollt: „Als dezentraler Standort soll auch Stuttgart erhalten bleiben.“ Mit diesem Beschluß, der mit 128 zu 114 Stimmen gefaßt wurde, trugen die Delegierten auch dem Anliegen der Stuttgarter Hauptvorstandsbeschäftigten Rechnung, die zuvor in der Kasseler Stadthalle mit einer kleinen Demonstration auf ihre Sorgen um ihre Arbeitsplätze am Standort Stuttgart aufmerksam gemacht hatten.
- Frauen- und Gleichstellungspolitik seien als generelle Zielsetzung in der Satzung der neuen Gewerkschaft zu verankern.
- Auf allen Ebenen von ver.di seien verbindliche Jugendstrukturen mit geregelten Rechten und eigenen, für eine kontinuierliche Jugendarbeit ausreichenden Budgetanteilen zu schaffen.
>Neben der abschließenden breiten grundsätzlichen Zustimmung zu den „Eckpunkten eines Zielmodells“ für ver.di betonten die Delegierten in einem Extrabeschluß noch einmal die Organisationsentscheidungen, die für die Beteiligung der IG Medien am weiteren Prozeß der gewerkschaftlichen Neuorganisation grundlegende Bedeutung haben. U.a. sind dies
- die Verankerung einer örtlichen Organisationsebene in der Gesamtorganisation und in den Fachbereichen,
- eine Verbesserung der gewerkschaftlichen Präsenz in der Fläche, eine gesicherte Autonomie der Fachbereiche und ihrer Fachgruppen,
- die Sicherung von Pluralität und innergewerkschaftlicher Demokratie (einschließlich des Rechts der Fachbereiche und -gruppen, sich öffentlich zu äußern),
- ein Streikfonds mit gesicherter laufender Zuführung aus den Beitragseinnahmen und ein Zukunftsfonds mit eigener Zuführung zur (finanziellen) Sicherung der Projektfähigkeit,
- eine an den Aufgaben der Fachbereiche orientierte Zuweisung von Personal im Rahmen einer Budgetierungsregelung.
- die Wahl der Hälfte der Delegierten zum Gewerkschaftstag und zu den Landesbezirkstagen von ver.di durch die Fachbereiche.
Ein weiteres zentrales Anliegen der Delegierten war, daß die Diskussion über eine Neuorganisation der fünf beteiligten Gewerkschaften sich nicht nur auf Sachfragen und strukturelle Regularien beschränken dürfe, sondern daß parallel dazu mit gleicher Ernsthaftigkeit über inhaltliche Ziele und das Selbstverständnis der neuen Gewerkschaft debattiert werden müsse.