Islamismus unter Generalverdacht? Berufsethische Anforderungen missachtet
Die Medienberichterstattung über das Massaker von Oslo zeigte die Journalisten vielfach nicht auf der Höhe der berufsethischen Anforderungen ihrer Profession. In einigen elektronischen Medien wurde ohne jede Absicherung sehr früh ein islamistischer Hintergrund angenommen, der sich letztlich als falsch erwies. Aber auch für viele Printmedien war der Kasus kein Ruhmesblatt. Manche Redaktionen überregionaler Blätter missachteten elementare Regeln für die Berichterstattung über Gewaltverbrechen.
Der Tatverlauf zwischen dem Osloer Bombenanschlag und der späteren Massenabschlachtung junger Menschen auf der Fjordinsel Utöya deutet auf eine minutiöse, kalkulierte Vorbereitung des Verbrechens hin. Sollte es die Absicht des Täters gewesen sein, eine möglichst breite Propagandaplattform für seine krude Weltsicht zu gewinnen, so ist ihm das durchaus gelungen. Lässt man die gewohnt blut- und sensationsgeile Berichterstattung der meisten Boulevardmedien beiseite: Auch so genannte „Qualitätszeitungen“ legten sich mächtig ins Zeug, um ein möglichst lückenloses Psychogramm des Täters zu zeichnen, seine Motive bis ins kleinste Detail zu ergründen. Die Süddeutsche Zeitung berichtet am 25. Juli unter der Überschrift „Psycho“ ganzseitig über den wahnsinnigen „Tempelritter“. Optisch aufgemacht mit einem Facebook entnommenen die halbe Seite ausfüllenden, dämonisch wirkenden Foto, versehen mit dem Hinweis, in einem 1.500 Seiten langen Manifest ermögliche der Täter „Einblicke in sein Gehirn“. Eine Einladung, die die beiden SZ-Reporter bereitwillig und in quälender Ausführlichkeit annehmen. „Dabei weiß der Leser nicht immer, ob die Verfasser das Manifest kommentieren oder beschreiben“, kritisiert eine Leserin im „SZ-Forum“ und moniert zudem ein weiteres Täterfoto auf Seite 1. Damit gewähre die Redaktion dem Täter „genau die Öffentlichkeit und Wichtigkeit, die er ja unbedingt haben will“. Die Leserbriefautorin schließt mit dem Wusch, „dass sich die Presse – ähnlich wie bei der Berichterstattung über Selbstmorde – einen Ehrenkodex auflegt“.
Diesen Ehrenkodex gibt es natürlich längst. „Bei der Berichterstattung über Gewalttaten, auch angedrohte, wägt die Presse das Informationsinteresse der Öffentlichkeit gegen die Interessen der Opfer und Betroffenen sorgsam ab“, fordert der Deutsche Presserat in Ziffer 11.2 seines Pressekodex. Und: „Sie berichtet über diese Vorgänge unabhängig und authentisch, lässt sich aber dabei nicht zum Werkzeug von Verbrechern machen.“ Eine Maxime, die im Fall der Osloer Ereignisse von den meisten Blättern, auch von der Süddeutschen, souverän ignoriert wird. Ein Bericht über die erste polizeiliche Vernehmung trägt die Überschrift „Attentäter erklärt sich für nicht schuldig“, das entsprechende Foto, wieder auf Seite 1, versehen mit der Bildzeile „Selbstzufrieden auf dem Weg ins Gericht“. Genau diese Sorte von Berichterstattung und Publicity, so der Kommentar eines Lesers, „hat der Schlächter sich gewünscht, denn er mordete, seinem kranken Gehirn zufolge, für eine gerechte Sache“. Ein anderer Leser schreibt, eine solche unfassbare Tat erzeuge neben Abscheu immer auch Faszination, der sich auch der Journalismus offenbar nicht entziehen könne: „Selbst den sachlichen und scheinbar genau recherchierten Artikeln in der SZ gelingt es kaum, sich vom monströsen Sendungsbewusstsein ihres Gegenstandes komplett zu lösen – und damit wirklich zu distanzieren.“
Auch viele Leser des Berliner Tagesspiegel empörten sich über die Berichterstattung ihres Blattes. Der Sinn einer ausführlichen Beschäftigung der Redaktion mit dem Manifest genannten Pamphlet des Täters „und damit direkten Unterstützung! seiner Absichten“, so eine Zuschrift, mochte sich den Wenigsten erschließen. Politikreporterin Caroline Fetscher antwortete dem Leser, eine „wirksame Prävention“ könnte nur gelingen, „wenn wir die Täter klarer profilieren, die Ursachen ihres unethischen Handelns besser begreifen“. Der Täter werde auf diese Weise „entmystifiziert“. Er wolle „sich als Mythos und Held gesehen wissen – genau das darf nicht zugelassen werden“. Das Ergebnis der redaktionellen Bemühungen sieht anders aus. Unter der Headline „Attentäter aus dem Nichts“ stellt das Blatt zwei Tage nach der Bluttat auf Seite 2 die „Frage nach dem Warum“. Antworten erhofft sich die Grafikabteilung offenbar von der Platzierung von fünf (!) übereinandergeschichteten Täterfotos in aufsteigender Größe – mit durchaus dämonisierender Wirkung. Zwei Tage später eine noch perfidere Bildergalerie: Unter der Überschrift: „Aus seinen Abgründen – Der Täter erklärt sich“ porträtiert das Blatt – garniert mit „Manifest“-Paraphrasen – den Täter in vier Posen, vom hochdekorierten Soldat bis zum Schützen mit Gewehr im Anschlag.
Bei der Berichterstattung über Gewaltverbrechen verschwimmen so immer mehr die Grenzen zwischen seriöser Presse und Boulevard. Im Fall des Schulmassakers von Winnenden vor zwei Jahren hatte der Presserat zwei Rügen gegen Bild ausgesprochen. Das Massenblatt hatte damals den Täter – mangels echter Fotos – mittels einer stilisierten Darstellung im Kampfanzug porträtiert. Bild.de machte seinen Usern das geschmacklose Angebot, per Computeranimation den Amoklauf virtuell nachzuspielen. Für den Presserat beides unzulässige Beiträge zur Heroisierung der Bluttat und des Täters. An Bilder von Tätern (und Opfern) zu kommen, wird für skrupellose Redaktionen im Zeitalter sozialer Netzwerke immer leichter. Die Winnender Zeitung hatte damals die zunächst getroffene redaktionelle Entscheidung, Täterbilder zu veröffentlichen, im Nachhinein bedauert. Letztlich gehe es bei der Berichterstattung auch darum, das Kalkül des Täters, der in der Regel auf „Nachruhm“ spekuliere, zu durchkreuzen. Auch, um für Nachfolgetäter keine Anreize zu schaffen. In die Redaktionen mancher „Qualitätszeitungen“ mit überregionalem Anspruch sind solche Erkenntnisse offenbar noch nicht durchgedrungen.