Als am 31. August 1946 das us-amerikanische Magazin „The New Yorker“ an den Zeitungskiosken auslag, verriet das Titelblatt in keinster Weise, welche Geschichte im Heftinneren auf den Leser wartete. Die Vorderseite des Einbands stammte wie so oft von dem New Yorker Künstler Charles E. Martin und zeigte eine friedliche Parklandschaft, in der Menschen spielen, tanzen oder spazierengehen. Drinnen aber entfaltete sich in einer Reportage mit dem Titel „Hiroshima“das Grauen, das dem Abwurf der ersten Atombombe am 6. August 1945 über Japan folgte.
Geschrieben hatteden Text im New Yorker der Schriftsteller und Journalist John Hersey und sie sollte als eine der berühmtesten Reportagen in die Geschichte der Presse eingehen.
John Hersey, 1914 als Sohn amerikanischer Missionare in China geboren, kam im Alter von zehn Jahren mit seiner Familie in die USA, wo er später die Yale University und anschließend die University of Cambridge besuchte. Seine journalistische Laufbahn begann in den 1930er Jahren als Mitarbeiter des Magazins Time, später arbeitete er für Life und The New Yorker. Er etablierte sich schnell als ernsthafter Chronist seiner Zeit und arbeitete als Kriegsberichterstatter im Pazifik, schrieb etwa über „The marines on Guadalcanal“ (Life, November 1942). Im gleichen Jahr erschien sein erstes (Sach)Buch „Men on Bataan“, das auf den Unterlagen von Times Life beruhte. Sein erster Roman, „A Bell for Adano“ (1944), gewann den Pulitzer-Preis für Literatur und hatte die amerikanische Besatzung in Italien – genauer: einem sizilianischen Dorf – während des Zweiten Weltkriegs zum Thema. Doch sein größter Beitrag zur Literatur und Journalistik sollte sein Bericht über den Atombombenabwurf auf Hiroshima werden.
Interviews mit Überlebenden
1946 erhielt Hersey vom The New Yorker den Auftrag, über die Auswirkungen der Atombombe auf Hiroshima zu berichten. Die US-Regierung hatte bis dahin nur wenige detaillierte Informationen über das Geschehen veröffentlicht. Hersey, der gerade in China als Reporter unterwegs war, reiste nach Japan und führte dort vier Wochen lang intensive Interviews mit sechs Überlebenden, den sogenannten „Hibakusha“.
Daraus entstand die Geschichte „Hiroshima“ für den „New Yorker“ – ursprünglich als Vierteiler geplant – und später das gleichnamige Buch. Darin schildert er das Schicksal von sechs Menschen zum Zeitpunkt der Atombombenexplosion (am Montag morgen um 8.15 Uhr) über dem Zentrum von Stadt, bei der sofort an die 70.000 Einwohner*innen getötet wurden. Da ist Kiyoshi Tanimoto – ein methodistischer Pastor – der um 8.15 Uhr gerade dabei ist, einen Handkarren in der westlichen Vorstadt abzuladen.
Der Pastor will damit Dinge vor dem erwarteten schweren Luftangriff von B-29-Bombern in Sicherheit bringen. Da ist Hatsuyo Nakamura – eine verwitwete Näherin, die gerade am Fenster ihrer Küche steht und zusieht, wie der Nachbar sein Haus niederreißen muss, weil es einer Luftschutz-Feuerlinie im Weg ist. Zur gleichen Zeit liest Masakazu Fujii – ein wohlhabender Arzt – in seinem Privatsanatorium die in Osaka erscheinende Zeitung Asahi. Toshiko Sasaki wiederum– eine junge Büroangestellte der Ostasiatischen Zinnwerke – nimmt gerade auf ihrem Bürostuhl im Fabrikkontor Platz. Pater Wilhelm Kleinsorge von der deutschen Jesuitenmission in Hiroshima liegt im obersten Stockwerk des dreistöckigen Missionshauses auf seinem Feldbett und liest die Zeitschrift „Stimmen der Zeit“. Der junge Chirurg Terufumi Sasaki vom Rot-Kreuz-Spital geht gerade mit einer Blutprobe den Korridor entlang.
Journalistische Präzision und literarische Erzählkraft
Dann kommt der gewaltige Blitz über der Stadt. Und die sechs Menschen im Bericht von John Hersey wundern sich später, warum sie überlebten, wo doch Abertausende sofort starben. Hersey erzählt ihr Schicksal mit einer Mischung aus journalistischer Präzision und literarischer Erzählkraft. Ein dokumentarischer Stil ohne explizite Anklage: „In dem ehemaligen Personalbüro der Ostasiatischen Zinnwerke lag Sasaki bewußtlos unter dem kolossalen Haufen von Büchern, Gips, Holz und verrostetem Eisen. Drei Stunden lang war sie – nach ihrer späteren Schätzung – vollkommen bewußtlos. Ihre erste Empfindung war ein furchtbarer Schmerz im linken Bein.“
Wendepunkt in der Reportageliteratur
Herseys Werk markiert einen Wendepunkt in der Reportageliteratur. Er war ein Vorläufer des „New Journalism“, wie er später etwa von Truman Capote („Kaltblütig“) repräsentiert wurde, er verband literarische Mittel mit journalistischer Recherche. Seine Methode war die der Narrative Nonfiction: wahre Geschichten, erzählt wie ein Roman. Es gibt in „Hiroshima“ keinen Ich-Erzähler, aber der Leser wird – wie eben in einer Erzählung – in das Geschehen einbezogen: „Es begann zur regnen. Frau Nakamura behielt ihre Kinder unter dem Regenschirm. Die Tropfen wurden ungewöhnlich groß, und einer schrie: ‚Die Amerikaner werfen Benzin ab! Sie stecken uns in Brand!‘“ Heute gilt seine Reportage als Klassiker des literarischen Journalismus.
Als der New Yorker das Manuskript erhielt, strich Chefredakteur Harold Ross alle anderen Inhalte und widmete die komplette Ausgabe dem Text. „Das Wichtigste, was wir je veröffentlicht haben“, sagte er. Die Ausgabe war innerhalb von Stunden ausverkauft, Herseys Bericht wurde von vielen Zeitungen nachgedruckt und schließlich als Buch herausgebracht und millionenfach gelesen. Die Wirkung von Hiroshima war immens. Zum ersten Mal begriffen Millionen Leser*innen die atomare Vernichtung nicht als abstrakte Kriegsstrategie, sondern als menschliche Tragödie. Albert Einstein kaufte 1000 Exemplare und verteilte sie. Die US-Regierung, die zuvor die Strahlenfolgen heruntergespielt hatte, sah sich mit unbequemen Fragen konfrontiert. In Japan verhinderte die US-Besatzungsbehörden bis 1949 die japanische Übersetzung, man fürchtete, das Buch könnte eine antiamerikanische Stimmung schüren.

