Plädoyer für die Reportage auf dem European Newspaper Congress
In Wien trafen sich Ende April 500 Chefredakteure und Führungskräfte zum European Newspaper Congress. Brandneue Trends wurden diesmal nicht präsentiert. Dennoch hat der Branchentreff einige interessante Erkenntnisse geliefert. Zum Beispiel, wie stark die Zeitungssprache von der Entwicklung des Films geprägt wird. Und, dass heute beides wichtig ist: ein gut gestaltetes Layout sowie ein bildlicher Schreibstil.
„Elegante Überschriftentype, klar strukturierter Umbruch, als Highlight Panoramaseiten mit großen Bildern und Texte mit Faktenboxen“ – so begründete die Jury ihre Wahl der Mayo News zur besten Lokalzeitung Europas. Das Blatt aus dem irländischen Westport ist nicht nur sehr professionell gemacht, sondern auch noch erfolgreich. Zwar hat The Mayo News nur eine Miniauflage von knapp 11.000 Exemplaren. Dennoch ist die Zeitung fest in der Region Mayo verwurzelt, nah am Leser und sie konnte ihre Auflage in den letzten zwei Jahren um 500 Stück steigern. Auch die anderen Preisträger – wie jedes Jahr wurden außerdem die beste Regional-, Wochen- und überregionale Zeitung mit einem Newspaper Award ausgezeichnet – konnten wegen ihrer leserfreundlichen Gestaltung punkten.
Visualität und Inhalt
Gerade The Mayo News zeigt: Lokalzeitungen müssen keine langweiligen Provinzblätter sein. Weder optisch, noch journalistisch. Auch wenn die Jury des Newspaper Awards vor allem das Layout im Blick hat – auch die beste Verpackung lässt sich nicht losgelöst vom Inhalt sehen, wurde in Wien deutlich. „Visualität und Inhalt müssen miteinander einhergehen“, so das Fazit von Michael Haller, Journalistikprofessor an der Universität Leipzig, in seinem Vortrag.
Gerade das aber scheinen deutsche Regional- und Lokalzeitungen zu wenig zu beherzigen, führte Haller weiter aus. Als „harten Faktor“ für die Qualität einer Zeitung und deren Wertschätzung durch die Leser identifizierte er die tägliche Nutzungszeit. Weniger als eine halbe Stunde pro Tag betrachtete er als kritisch. „Der Reichweitenrückgang wird begleitet vom Rückgang der Nutzungszeit, die die Abonnenten für die Zeitungslektüre aufbringen“, so Haller. Also müsse es darum gehen, die Leser länger am Blatt zu halten. Klare Strukturen, wenige, dafür ausführlichere Beiträge sind laut Haller ein Garant für Erfolg. Auch das Zusammenspiel von Bildaussage, Überschrift, Vorspann, Texteinstieg sei wesentlich. „Zeitungen kann man heute nicht mehr aus dem Bauch machen“, mahnte der Wissenschaftler. Außerdem kritisierte er, dass die Lokalberichterstattung durch Standardthemen geprägt sei und die gesamte Palette der subjektiven Darstellungen – wie zum Beispiel die Reportage – in vielen Zeitungen nicht genutzt werde.
Der Zeitungsdesigner Norbert Küpper, einer der Organisatoren des größten europäischen Zeitungskongresses, schloss sich der Kritik an. „Viele der Dinge, die wir durch Methoden wie Reader Scan erforscht haben, stehen auch schon in Lehrbüchern, nur werden sie nicht so stark beachtet.“ Auch dass Standardthemen die Lokalzeitungen bestimmen, sei „schon vor 15 Jahren gesagt“ worden. „Aber Journalismus ist ein kreativer Beruf. Man muss also sehr stark auf die eigene Suche gehen, um eine große Mehrheit an Lesern für die Artikel zu gewinnen“, so Küpper.
Wie schwierig das sein kann, davon berichtete Manfred Perterer, Chefredakteur der Salzburger Nachrichten. Teile des Blattes wurden im Ergebnis der Leserforschung reformiert – unter anderem die Sportseite, die sich als Problemfall heraus kristallisiert hatte. Um die Berichterstattung lebendiger zu gestalten und die Menschen hinter den Ergebnistabellen zu zeigen, wurden Frauen in die Sportredaktion aufgenommen. Was bei den Lesern gut ankam, sorgte bei alteingesessenen Redakteuren und Sportfunktionären für Unmut und musste mit viel Überzeugungskraft durchgesetzt werden.
Worte in bewegenden Bildern
Lange, gut erzählte Geschichten mögen die Leser besonders. Deshalb gab es in Wien nicht nur von Haller ein deutliches Plädoyer für die Reportage. Der Journalistentrainer Peter Linden schilderte, wie sehr dieses Genre einst den Journalismus revolutionierte und überraschte mit Einsichten über die Entstehung der Reportage als Antwort auf die Erfindung des Films 1895. „Mit diesem Ereignis entstand das Bedürfnis, bewegte Bilder auch in Sprache abzubilden. Das war die Geburtsstunde der Reportage“, so Lindner. Um die Jahrhundertwende begannen die ersten großen Reportageautoren das, was der Film mit bewegten Bildern zeigt, mit Worten in bewegenden Bildern darzustellen. „Es ging plötzlich mehr um Prozesse als um Fakten, darum, dass der Leser was erleben kann und nicht nur etwas erfährt.“
Analog zur Erfindung des Zoom-Objektivs in den 1960er Jahren entstand außerdem das journalistische Feature, und auch die dramaturgische Gestaltung von Texten richtet sich – außer bei den Nachrichten – inzwischen am Film aus: Geschichten werden heute nicht mehr chronologisch nacherzählt, sondern sie beginnen mit dem Höhepunkt. Und noch ein Phänomen haben wir dem Film zu verdanken. „Die deutsche Sprache hat in den letzten hundert Jahren im Durchschnitt fünf Wörter pro Satz an Umfang verloren“, sagte Lindner. Durch die visuellen Medien habe Jeder einen großen Bildervorrat zu praktisch jedem Thema im Kopf. „Der Leser kann auf ein Stichwort hin sich heutzutage vielmehr vorstellen und braucht weniger explizite visuelle Aufarbeitung. Wenn wir zu ausführlich formulieren, langweilt er sich, weil er sich in seiner assoziativen Mitarbeit unterfordert fühlt“, erklärte Lindner. Genau darum aber gehe es: um einen besseren geschriebenen Journalismus, der sich am Leser ausrichtet.