Schwer verletzt

Angriffe auf russische Journalisten ohne strafrechtliche Folgen

Kritik am Kreml oder an Gruppen, die der Regierungspartei „Einiges Russland“ nahe stehen, ist gefährlich – auch und gerade, wenn sie von unabhängigen Journalisten kommt. Im November sind erneut Medienvertreter angegriffen und schwer verletzt worden. Und die Ermordung von Anna Politkowskaja vor vier Jahren ist weiterhin nicht aufgeklärt.

Die beiden vermummten Männer lauerten Oleg Kaschin vor seiner Wohnung auf. Es war kurz nach Mitternacht, als der 30-Jährige am 6. November zu dem Haus im Zentrum Moskaus zurückkehrte. Unter anderem mit Schlagstöcken prügelten sie auf Kaschin los, als er das Gebäude betreten wollte. Auch auf den am Boden liegenden Mann schlugen sie weiter ein – Video-Kameras hielten das Geschehen fest. Doch das schreckte die Angreifer offenbar nicht.
Kaschin, ein Reporter der Moskauer Tageszeitung Kommersant, musste mit gebrochenen Beinen, einem doppelten Kieferbruch und einem Schädeltrauma ins Krankenhaus. Die Ärzte versetzten ihn nach einer Notoperation zunächst in ein künstliches Koma. Tagelang war unklar, ob er jemals wieder gehen und arbeiten kann. Ende November meldete er sich jedoch mit einem Artikel aus dem Krankenhaus zurück. Darin kündigt er an, im Januar seine Arbeit bei Kommersant wieder aufzunehmen. Er werde sich auch mit Gewalt nicht zum Schweigen bringen lassen, schreibt Kaschin.
Der Überfall sorgt landesweit und auch international für Entsetzen. Kommersant-Chefredakteur Michail Michailin spricht von einer „demonstrativen Brutalität“ und ist sicher, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Überfall und Kaschins journalistischer Arbeit gibt. Auf Demonstrationen forderten Moskauer Bürger die Aufklärung des Verbrechens und äußerten die Sorge, dass die Ermittlungen wieder mal im Sand verlaufen könnten. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ (ROG) verlangt eine unabhängige Untersuchung. „Kaschin gehört zu den brillantesten und mutigsten russischen Journalisten seiner Generation“, betont ROG-Generalsekretär Jean-Francois Julliard. Schon lange gebe es in Russland ein Problem der Straflosigkeit. Weil Übergriffe der Vergangenheit nicht geahndet worden seien, würden die Täter nicht abgeschreckt. Und vier Jahre nach dem Mord an der bekannten Journalistin Anna Politkowskaja stellt Julliard fest, dass „die Ermittlungen nirgendwohin geführt haben“.
Die Internationale Journalistenvereinigung (IFJ) kommt zu ähnlichen Schlüssen wie ROG: „Der Überfall auf Oleg Kaschin ist kein isolierter Vorfall“, meint Generalsekretär Aidan White. Nach Recherchen der Organisation sind seit 2005 mehr als hundert russische Medienvertreter auf ähnliche Weise angegriffen worden. „Nur wenn die Täter vor Gericht gestellt und bestraft werden, kann es gelingen, die Gewalt gegen Journalisten zu unterbinden“, erklärt auch die Europa-Expertin des „Komitees zum Schutz der Journalisten“ (CPJ), Nina Ognianova.
Wie berechtigt die Sorge der internationalen Organisationen ist, zeigte sich nur zwei Tage nach dem brutalen Angriff auf Oleg Kaschin. In einer Moskauer Vorstadt überfielen Unbekannte den Journalisten Anatoli Adamtschuk in der Nähe seines Büros. Mit Prellungen und einer Gehirnerschütterung landete auch der Redakteur der Regionalzeitung Schukowskie Westi im Krankenhaus.
Auch wenn sich niemand zu den Taten bekannte, gibt es auffällige Parallelen: Beide, Kaschin und Adamtschuk, recherchierten über den geplanten Bau einer Autobahn im Moskauer Vorort Chimki. Gegen das Vorhaben gibt es seit Jahren Proteste von Anwohnern und Umweltschützern, weil für die acht-spurige Trasse von Moskau nach St. Petersburg ein Wald abgeholzt werden soll. Schon vor zwei Jahren war der Journalist Michail Beketow zusammengeschlagen worden. Auch er hatte die Proteste sichtbar gemacht. Heute sitzt er im Rollstuhl und kann nur mit Mühe sprechen. Oleg Kaschin berichtete ebenfalls mehrfach über den Widerstand gegen das Projekt. Ohnehin konzentrierte er sich in seinen Reportagen auf zivilgesellschaftliches Engagement, kritisierte Demokratiedefizite und die Korruption im Land. Damit machte er sich natürlich auch Feinde. Offen hetzte die „Junge Garde“, eine Jugendorganisation der Regierungspartei „Einiges Russland“ gegen Kaschin. „Der Verräter muss bestraft werden“, drohte sie dem Journalisten im Internet. Sie erklärte Menschenrechtler, kritische Journalisten und Oppositionelle zu Feinden des russischen Volkes – und gab sie so indirekt „zum Abschuss frei“. Nach dem Anschlag auf Kaschin erklärte die Organisation allerdings, sie bevorzuge die politische Auseinandersetzung und verurteile das „barbarische Verbrechen“.
Diesmal geriet auch die russische Führung unter Druck. Präsident Dimitri Medwedew kündigte eine Aufklärung des Falles an. Generalstaatsanwalt Jiri Tschalka wurde damit beauftragt, mit höchster Priorität die Täter zu ermitteln. Zudem betonte Medwedew demonstrativ die „herausragende gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit von Journalisten“. Medienverbände sind aber skeptisch, ob den Worten wirklich Taten folgen werden.
In den Redaktionen steigt unterdessen die Nervosität und die Angst. Andrej Lipski ist stellvertretender Chefredakteur der Nowaja Gazeta. In seinem Büro hängen die Porträts der ermordeten Kolleginnen und Kollegen, darunter auch Anna Politkowskaja. Die Situation beschreibt Lipski so: „Auch wenn wir nicht befürchten, sofort getötet zu werden: Alle Journalisten im Land überlegen sich genau, was sie schreiben.“ Und genau diese Einschüchterung haben die Auftraggeber der Überfälle auf die Journalisten auch bezweckt.

 

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