Türkei: Göktepe- Prozess ohne Ende

Angeklagte widerrufen Aussagen

Angesichts der immer noch ungebrochen großen öffentlichen Aufmerksamkeit, die der „Fall Göktepe“ in der Türkei erregte, schlug Staatspräsident Süleyman Demirel am „Tag der Presse“ starke Töne an: „Die türkische Ehre“ stünde auf dem Spiel. Der Prozeß gegen die elf des Mordes an dem Journalisten Metin Göktepe angeklagten Polizisten habe sich zu einem „Problem“ entwickelt, „das gelöst werden muß“. Der Eindruck, hier solle etwas vertuscht werden, müsse schleunigst beseitigt werden. Doch Demirels Intervention vom 24. Juli dieses Jahres verhallte ungehört. Auch nach dem neunten Verhandlungstag am 11. Oktober ist das Ende des Prozesses nicht absehbar.

Vor rund einem Jahr begann der Prozeß gegen die mutmaßlichen Mörder Metin Göktepes. Elf Polizisten sind des gemeinschaftlichen Mordes an dem Reporter der linken Tageszeitung „Evrensel“ angeklagt. Das Verfahren gegen 37 weitere Polizeibeamte, denen Beihilfe vorgeworfen wird, ist von der Hauptverhandlung abgetrennt worden. Eine Verurteilung der Angeklagten erscheint ungewisser denn je. So ist die erst am letzten Prozeßtag vor dem Schwurgericht im südanatolischen Afyon durchgeführte Gegenüberstellung der Beschuldigten mit drei Tatzeugen eineinhalb Jahre nach dem am 8. Januar 1996 verübten Mord nur noch von begrenztem Aussagewert. Nur vier Polizisten konnten von einem der Zeugen, Deniz Özcan, eindeutig identifiziert werden. Die Verteidigung zieht diese Identifizierung in Zweifel. Seit Selcuk Bayraktaroglu, Saffet Hizarcl, Fikret Kayacan, Burhan Koc, Seydi Battal Köse, Sedal Korkmaz, Metin Kusat, Suaylp Mutluer, Murat Polat, Ilhan Sarioglu und Tuncay Uzun das erste Mal im August dieses Jahres vor Gericht erschienen sind, wurden unzählige Bilder von ihnen in den türkischen Medien veröffentlicht. Das macht eine Gegenüberstellung inzwischen in der Tat fragwürdig.

Entlassung der Angeklagten ohne Begründung

Erst Anfang August dieses Jahres waren neun der Angeklagten in Untersuchungshaft genommen worden – vier von ihnen nur für einen Monat. Ihre Entlassung erfolgte ohne Begründung. Als die Freigelassenen das Gerichtsgebäude von Afyon verließen, warteten bereits Anhänger der faschistischen Partei MHP auf die vier Polizisten. „Die Türkei ist stolz auf euch“, skandierten die Anhänger des im April verstorbenen Alparslan Türkes. Sie schwenkten türkische Fahnen und schlachteten auf der Straße ein „Opferlamm“ zu Ehren der uniformierten Mörder.

Am 15. September, dem achten Verhandlungstag, widerriefen die Angeklagten alle sie belastenden Aussagen, die sie vor einer Untersuchungskommission des türkischen Innenministeriums und in einer nicht öffentlichen gerichtlichen Vernehmung im Sommer 1996 gemacht hatten. Damals „begründeten“ auch einige der Tatbeteiligten zynisch die Notwendigkeit der „Bestrafung“ Göktepes: Er habe die Nationalhymne auf türkisch und den Gebetsruf auf arabisch nicht auswendig gewußt. Nun behaupten die Polizisten, sie seien zu diesen Aussagen von den Polizeibehörden zum Teil unter Folter gezwungen worden. Sie seien jedoch unschuldig. Die Verteidigung präsentierte eine neue Mordtheorie: Nicht Polizisten, sondern die auch in der BRD verbotene linksterroristische DHKP-C (Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front), besser bekannt unter ihrem früheren Namen Dev-Sol (Revolutionäre Linke), sei für die Ermordung Göktepes verantwortlich. Sie habe den Mord an dem Großunternehmer Özdemir Sabanci vertuschen wollen. Das gibt jedoch wenig Sinn: Zum einen wurde Sabanci zusammen mit dem Vorsitzenden des türkischen Toyota-Konzerns, Haluk Görgün, sowie der Sekretärin Nilgün Hasefe erschossen, als Göktepe bereits tot war. Zum anderen bekannte sich Dev-Sol unmittelbar nach dem Anschlag zu dieser Tat. Auch die bisherigen Ermittlungsergebnisse im Göktepe-Prozeß widersprechen der Theorie der Verteidigung, ebenso das Ergebnis einer parlamentarischen Untersuchungskommission. Demnach wurde der Journalist in Polizeigewahrsam von Polizisten zu Tode geprügelt.

Untersuchungskommission: Tod durch Folter

Über eineinhalb Jahre sind inzwischen seit der Ermordung Metin Göktepes vergangen. Vorangegangen war ein polizeilicher Großeinsatz: Die Polizei hatte eine Beerdigungsfeier für zwei im Gefängnis Umraniye getötete Häftlinge in Istanbul gewaltsam aufgelöst und über 1000 Menschen festgenommen – unter ihnen den 27jährigen Göktepe. Obwohl er sich als Journalist auswies, wurde Göktepe zusammen mit 704 weiteren Verhafteten in eine Sporthalle im Istanbuler Stadtteil Eyüp verfrachtet. Wenige hundert Meter davon entfernt fand man später seine Leiche. Der Autopsiebericht stellte schwere körperliche Mißhandlungen fest. Die Todesursache war dem gerichtsmedizinischen Gutachten zufolge eine Gehirnblutung, verursacht von Knüppelschlägen. Zunächst leugneten sowohl der Polizeipräsident von Istanbul als auch der türkische Innenminister, daß sich Göktepe zum Zeitpunkt seines Todes überhaupt in Haft befunden habe. Die damalige Ministerpräsidentin Tansu Çiller schloß sich ihrer Sichtweise an: Göktepe sei nie festgenommen worden, und falls doch, sei er vor seinem Tod wieder freigelassen worden. Eine unhaltbare These: Dutzende von Augenzeugen hatten gesehen, wie und wo Göktepe gestorben war. Das Innenministerium setzte eine Untersuchungskommission ein, die zu dem Ergebnis kam, daß Göktepe von Polizisten zu Tode gefoltert wurde.

Der Göktepe-Prozeß ist ein exemplarischer Fall für den Zustand der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei. Er ist „Ausdruck dafür, daß man der Presse und den Journalisten in der Türkei keinen freien Raum lassen möchte“, so der Vorsitzende des türkischen Journalistenverbandes und Kolumnist der Tageszeitung „Milliyet“, Nail Güreli. Der Rechtsanwalt und Strafrechtsprofessor an der Uni Bremen, Bernd Wagner bilanziert: „Mit zunehmender Dauer liefert dieses Verfahren den Beweis, daß in der heutigen Türkei weder die große Politik noch die Justiz genügend Macht besitzen, um die allgegenwärtige Polizeiwillkür zu bekämpfen.“ Wagner ist Mitglied einer bundesdeutschen Menschenrechtsdelegation, die den Göktepe-Prozeß beobachtet.

Als kritischer Journalist lebt es sich in der Türkei gefährlich. Die internationale Journalistenvereinigung Reporter ohne Grenzen spricht von 154 gewaltsamen Übergriffen alleine 1996. 25 Journalisten wurden in den 90er Jahren ermordet. Das bislang letzte Opfer war Metin Göktepe. Fadime Göktepe, die Mutter des ermordeten Journalisten, kämpft für eine Bestrafung der Täter: „Ich und der Druck der Öffentlichkeit werden alles daran setzen, daß die verantwortlichen Mörder gerecht verurteilt werden.“ Am 6. November wird der Prozeß fortgesetzt. l

 

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Games: Welcome to Planet B

Die Bürgermeisterin muss sich entscheiden: Soll zuerst ein Frühwarnsystem vor Springfluten eingerichtet oder neue Möglichkeiten zum Schutz vor Hitze geplant werden? Und sollen diese neuen Schutzmaßnahmen besonders günstig oder lieber besonders nachhaltig sein? Was wie Realpolitik klingt ist ein Computerspiel. Denn immer mehr Games setzten sich auch mit Umweltthemen auseinander.
mehr »

Nachrichten gegen Desinformation

Über 800 Medien wie Reuters, die Washington Post, Zeit Online und AFP unterstützten den diesjährigen World News Day, der zeitgleich mit dem UN-Tag für den universellen Zugang zu Information, am 28. September gefeiert wird.  „Journalismus ist das Sicherheitsnetz unserer Gesellschaft, sagte David Walmsley, Gründer des Weltnachrichtentages und Chefredakteur der kanadischen Zeitung Globe and Mail. Dieses Sicherheitsnetz hat Risse und hängt fast überall in der Welt am seidenen Faden - und mit ihm alle freien Gesellschaften.
mehr »

Neue Perspektiven für Klimajournalismus

Besondere Zeiten brauchen einen besonderen Journalismus – ein Motto, dass das im Juli gelaunchte deutschsprachige Medienprojekt „Neue Zukunft“ nicht aus werbestrategischen Gründen ausgegeben hat. Die Klimakrise und die Klimagerechtigkeitsbewegung erhalten in vielen Medien der Schweiz, Österreichs und Deutschlands ihrer Meinung nach nicht genügend Aufmerksamkeit. Gerade Gerechtigkeitsfragen erhöhen den Handlungsdruck im Zusammenhang mit den Folgen menschlichen Raubbaus an Ressourcen und Umwelt.
mehr »

Klimaleugnung in den Medien

Rechtspopulistische Bewegungen machen weltweit mobil gegen den Klimaschutz. Sie zeigen sich „skeptisch“ gegenüber dem Klimawandel und lehnen klima- und energiepolitische Maßnahmen ab. Ein Widerspruch: Obgleich „Klimaskepsis“ und die Leugnung des menschengemachten Klimawandels vielfach zentrale Positionen der politischen Rechten markieren, existieren auch gegenläufige Tendenzen in Bezug auf Umwelt- und Naturschutz. Denn auch Rechte waren stets in Umweltbewegungen zugegen. Das hat Tradition.
mehr »