Zum völlig falschen Zeitpunkt

Die Europäische Union und die Türkei nähern sich an, die Beitrittsverhandlungen, die jahrelang nicht vorankamen, erhalten neuen Schwung. Und das in einer Zeit, in der Ankara die Menschenrechte mit Füßen tritt und unliebsame Journalisten inhaftiert und mit Klagen überzieht. Eigentlich ein Grund, der Türkei klar zu signalisieren, dass es so nicht geht.

Aber das Land wird zur Abwehr der Flüchtlinge gebraucht, da drückt Brüssel beide Augen zu. Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm. Die türkischen Behörden schicken Flüchtlinge in den Bürgerkrieg nach Syrien zurück. Doch die Genfer Flüchtlingskonvention verbietet Abschiebungen in Länder, in denen den Menschen Gefahr für Leib und Leben droht. Europa müsste also aufschreien. Doch mit der großen Zahl von Flüchtlingen teilweise überfordert, wirft die Europäische Union ihre eigenen Werte über den Haufen. Statt die Türkei aufzufordern, Flüchtlinge menschlich zu behandeln und internationale Verträge zu beachten, biedert sich Brüssel bei der Regierung in Ankara und dem „Sultan“ Recep Tayyip Erdogan an.

Die Lage der Medien ist ein guter Gradmesser für den Stand der Demokratie im Land. Und um die Pressefreiheit in der Türkei ist es schlecht bestellt. Verfahren gegen linke Journalisten wegen angeblicher Unterstützung der PKK, Anklagen wegen „Verunglimpfung des Präsidenten“, eine Konzentration von Medien in den Händen regierungsnaher Unternehmen, Internetzensur, Razzien gegen regierungskritische Medien. Die Repression gipfelte in der Festnahme und Anklage des Chefredakteurs der renommierten Tageszeitung „Cumhuriyet“, Can Dündar, und seines Büroleiters in Ankara, Erdem Gül, Ende November 2015. Ihnen droht eine Verurteilung wegen angeblicher „Spionage“ und der „Verbreitung von Staatsgeheimnissen“, weil sie Dokumente veröffentlichten, die eine Beteiligung des türkischen Geheimdienstes an Waffenlieferungen für Islamisten in Syrien nahe legten.

Unabhängiger Journalismus ist in der Türkei immer schwieriger geworden. Entsprechend ist das Land auf dem Index der Pressefreiheit auf Platz 149 von 180 abgestürzt. Hinter der Türkei rangieren fast ausnahmslos finsterste Diktaturen.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Es gibt durchaus gute Argumente für einen EU-Beitritt der Türkei oder eine Heranführung des Landes an Europa – nicht nur sicherheitspolitische. Aber es gab wohl kaum einen schlechteren Zeitpunkt, die Beitrittsgespräche wieder aufzunehmen als den gegenwärtigen. Die Journalisten in der Türkei jedenfalls fühlen sich im Stich gelassen.

 

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Spanien: Als Terrorist beschuldigt

Der katalanische Investigativjournalist Jesús Rodríguez hat Spanien verlassen, um ins Exil in die Schweiz zu gehen. Ihm wird von Ermittlungsrichter Manuel García-Castellón die Unterstützung terroristischer Akte vorgeworfen. Die Schweiz sieht im Vorgehen der spanischen Justiz gegen den Katalanen einen „politischen Charakter“.
mehr »

Italien: Neun Jahre Haft für Recherche?

Drei Reporter*innen der italienischen Tageszeitung Domani müssen mit bis zu neun Jahren Gefängnis rechnen. Die Staatsanwaltschaft Perugia ermittelt gegen sie, weil sie vertrauliche Dokumente von einem Beamten angefordert und erhalten und das Geheimhaltungsprinzip der Ermittlungen verletzt haben sollen. Die dju-Bundesvorsitzende Tina Groll kritisierte, dass „hier investigative Berichterstattung über Mitglieder der italienischen Regierung unterdrückt werden soll."
mehr »

RSF: Vertrauen Sie der freien Presse!

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wählt in diesem Jahr ein neues Staatsoberhaupt oder eine neue Regierung, Regional- oder Kommunalpolitiker. Gleichzeitig begeht die deutsche Sektion von Reporter ohne Grenzen (RSF) ihr 30-jähriges Bestehen. Grund genug für die Kampagne „Erste Worte“. Unterschiedliche Menschen hören Auszüge aus den Antrittsreden ihrer Präsidenten: Wladimir Putin aus dem Jahr 2000, Nicolás Maduro aus dem Jahr 2013 und Recep Tayyip Erdogan 2014.
mehr »

Das Manifest für die Schublade

Schwein gehabt: Das „Manifest für einen neuen öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland“, (meinungsvielfalt.jetzt) wurde weder ein Fest für die Freunde einer völlig verstrahlten medienpolitischen Debatte, noch eines für die Gegner des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus dem konservativen, neoliberalen und rechts-außen Lager. Ein paar Aufmerksamkeitszeilen in den Medienspalten der Zeitungen und wenige Interviews im Radio – das war’s. Glücklicherweise ist das Manifest fast schon wieder in der Versenkung verschwunden. Dort gehören diese Halbwahrheiten und unausgegorenen Neustartvisionen für meinen Geschmack auch hin.
mehr »