Alles nur Theater?!?

Vor den Bundestagswahlen: Zum Verhältnis von Medien und Politik

Bundestagswahlen 1998 – die Begeisterung vieler Kollegen und Kolleginnen hält sich in eher engen Grenzen. Denn mit dem Wahlkampf kommen wenig ersprießliche Dinge auf sie zu: Viele zusätzliche Termine, mehr oder weniger engagierte oder auch langweilige Reden von Politikern und Politikerinnen, deren Ansprachen sich schon bald von hoher lexikalischer Vorhersagbarkeit erweisen – vulgo: Wir wissen spätestens beim zweiten Auftritt, was welcher Parteienvertreter zu welchem Thema sagen wird. Doch wir sehen uns – mehr oder weniger – zu Objektivität und Ausgewogenheit verpflichtet, und deshalb wappnen wir uns mit unserer berufsspezifischen Professionalität bei der Beobachtung des Wahlkampfes.

Professionalität bescheinigen uns Journalistinnen und Journalisten auch Wissenschaftler – im Unterschied zu beispielsweise den Kolleginnen und Kollegen in den USA oder in Großbritannien: Wir lassen uns „nämlich von den Darstellungswünschen der Politiker und Parteien im Wahlkampf nicht beeinflussen; wenn überhaupt, dann werden in Deutschland nur nachrichtenwürdige Wahlen zum Thema“, attestieren uns auf der Grundlage vergleichender empirischer Untersuchungen die Publizistikwissenschaftler Klaus Schönbach (Hannover) und Holli A. Semetko (Amsterdam)1. Hier soll nicht die Methodik ihrer Inhaltsanalysen diskutiert werden, sondern die Tendenz der Beobachtungen als zutreffend unterstellt werden. Auf der Grundlage ihrer Erhebungen schlußfolgern die Wissenschaftler: „In der Auswahl von Ereignissen der politischen Berichterstattung werden handwerkliche Nachrichtenkriterien angewendet. Ohne Ansehen der politischen Richtung ist nachrichtenwürdig das, was wahrscheinlich Konsequenzen für die Bevölkerung besitzt …“2

Doch spätestens damit beginnen die Schwierigkeiten: Praktische Auswirkungen haben im wesentlichen die Entscheidungen, die die Regierung trifft. Folglich „(herrschte) 1990 und 1994 in der politischen Berichterstattung von Fernsehnachrichten und Zeitungen ein starkes Übergewicht der Regierungsparteien CDU/CSU/FDP vor.“3 Semetko und Schönbach sprechen daher von einem „,Sichtbarkeitsbonus‘ für Kanzler und Regierungsparteien“, 4 der allerdings ausdrücklich nicht mit einer positiveren Bewertung verbunden gewesen sei 5. Somit also alles in Ordnung? Keineswegs, denn dieser Sichtbarkeitsbonus hat Folgen, denn es „stellte sich heraus, daß Politiker wie Helmut Kohl im Wahlkampf offenbar schon deshalb zusehends besser bewertet wurden, weil sie regelmäßig zum Beispiel auf dem Bildschirm erschienen (…) Die Wiederkehr der immer gleichen Akteure in den Nachrichten (…) flößte Vertrauen zu ihnen ein.“6 So wird durch Präsenz Kompetenz vorgegaukelt, wie der stellvertretende medienpolitische Sprecher der SPD Reinhard Grätz beklagt.7

Die Opposition komme mit ihren Kandidaten und Kandidatinnen und ihrem Programm kaum mehr in den Medien vor, und der Prozeß einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung komme in Gang, schlußfolgern Schönbach und Semetko: „Eine Opposition, von der man in den Nachrichten nichts erfährt, wird dann gleichsam zu Recht auch nicht zur Regierung.“8 Daher müssen die oppositionellen Parteien Gegenstrategien entwickeln.

Große Auftritte sind gefragt, die „Inszenierung von Politik für die Medien“ beziehungsweise „in den Medien“, so der Titel einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum im vergangenen Jahr.

Dort sollten, noch rechtzeitig vor den Bundestagswahlen, Politiker, Journalisten und Pressesprecher „Überlegungen auf dem Wege zu einer anderen Politik-Vermittlung“ diskutieren. Doch da diese Berufsgruppen sind wie sie sind, ging der Versuch selbstverständlich schief. Mehr, als den Teilnehmern das problematische Verhältnis von Politik und Medien und die Rolle von Inszenierungen bewußt zu machen, gelang nicht. Schon in der Ankündigung der Tagung hatte deren Leiter Jörg Calließ vorwegnehmen können, was sich während der drei Tage Diskussion wiederholt bestätigt hatte: „Indem die Medien die Darstellung des Stoffes Politik nach ihren Gesetzen formen, kommen Ereignisse in den Vordergrund, prozessuale Vorgänge dagegen in den Hintergrund, wird Personen mehr Aufmerksamkeit geschenkt als Inhalten, werden die Komplexitäten politischer Fragen, Probleme und Prozesse unangemessen reduziert.“

Das ist selbstverständlich auch eine Folge des Wettbewerbes im Medienmarkt, aber nicht nur. Es gehört auch zum Programm eines sich selbst als „zeitgemäß“ verstehenden Journalismus auch außerhalb der direkten Wirkung von Marktmechanismen. Das belegte Thomas Bellut, Leiter der Hauptredaktion Innenpolitik beim ZDF, zuständig für die Sendungen zum Bundestagswahlkampf. Er plädierte für „Gags“ in Informationssendungen: „Politik muß inszeniert werden, sonst ist sie einfach langweilig.“ Wer da nicht mitmachen kann oder will, hat halt Pech gehabt, wie Frank P. Stauss, Politikwissenschaftler und Gesellschafter der Düsseldorfer Werbeagentur Butter, jüngst offenbarte. Er, der während mehrerer Wahlkämpfe die SPD betreute, meint über das Verhältnis der Partei zu PR-Tricks (es bleibe dahingestellt, ob zu Recht): „Sie tut sich schwer, hat Angst, eine ethische Schwelle zu überschreiten. Das ist ja liebenswert, paßt aber nicht ins Medienzeitalter. „9 Deutlich und ehrlich: Ethik paßt nicht in diese Zeit.

Doch wenn schon ein Teil der Journalisten und Wissenschaftler die Lage der Berichterstattung über Politik im Medienzeitalter so wenig (selbst)kritisch sehen – wie problembewußt gehen Politiker mit dieser Situation um – zumal Medienpolitiker? M hat – noch im ausreichenden Zeitabstand zur heißen Wahlkampfphase – führende Medienpolitiker der im Bundestag vertretenen Parteien zu den Stichworten befragt, die nicht nur in Loccum die Diskussion prägten, sondern gleichsam zum Standard der Debatten über Politik in den Medien gehören. Dabei ging es nicht nur um die Problemsicht der Medienpolitiker, sondern wir wollten auch wissen, welche Handlungsmöglichkeiten sie sehen, den immer wieder beklagten Zustand zu verändern.

Die Interviews mit Rezzo Schlauch (Bündnis 90/Die Grünen), Hans-Joachim Otto (FDP) und Lothar Bisky (PDS) folgen in „M“ 5/98.

1 Schönbach, Klaus/ Semetko, Holli A.: Journalistische „Professionalität“ versus Chancengleicheit von Regierung und Opposition. In: Armingeon, Klaus/Blum, Roger (Herausgeber): Das öffentliche Theater. Politik und Medien in der Demokratie. Bern, Stuttgart, Wien: Verlag Paul Haupt 1995, S. 49-64, hier S. 49.
2 a.a.O., S. 58 f.
3 a.a.O., S. 52
4 ebd.
5 a.a.O., S. 55
6 a.a.O., S. 59 f.
7 siehe Interview in dieser Online-Ausgabe
8 a.a.O., S. 60
9 Die Woche, 21. November 1997, Seite 7

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Erneute Streiks bei NDR, WDR, BR, SWR 

Voraussichtlich bis Freitag werden Streiks in mehreren ARD-Sendern zu Programmänderungen, Ausfällen und einem deutlich veränderten Erscheinungsbild von Radio- und TV-Sendungen auch im Ersten Programm führen. Der Grund für den erneuten Streik bei den großen ARD-Rundfunkanstalten ist ein bereits im siebten Monat nach Ende des vorhergehenden Tarifabschlusses immer noch andauernder Tarifkonflikt.
mehr »

Schutz vor zu viel Stress im Job

Immer weiter, immer schneller, immer innovativer – um im digitalen Wandel mithalten zu können, müssen einzelne Journalist*innen wie auch ganze Medienhäuser sich scheinbar ständig neu erfinden, die Belastungsgrenzen höher setzen, die Effizienz steigern. Der zunehmende Anteil und auch Erfolg von KI-basierten Produkten und Angeboten ist dabei nur das letzte Glied in der Kette einer noch nicht abgeschlossenen Transformation, deren Ausgang vollkommen unklar ist.
mehr »

Für eine Handvoll Dollar

Jahrzehntelang konnten sich Produktionsfirmen auf die Bereitschaft der Filmschaffenden zur Selbstausbeutung verlassen. Doch der Glanz ist verblasst. Die Arbeitsbedingungen am Set sind mit dem Wunsch vieler Menschen nach einer gesunden Work-Life-Balance nicht vereinbar. Nachwuchsmangel ist die Folge. Unternehmen wollen dieses Problem nun mit Hilfe verschiedener Initiativen lösen.
mehr »

Tarifverhandlungen für Zeitungsjournalist*innen

Bereits Ende Mai haben die Tarifverhandlungen zwischen der Deutschen Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) in ver.di und dem Zeitungsverlegerverband BDZV begonnen. Darin kommen neben Gehalts- und Honorarforderungen erstmals auch Regelungen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) zur Sprache.
mehr »