Bedürfnis nach Authentizität

Symposium über Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche

Wie können Kinder und Jugendliche mit Dokumentarfilmen am besten erreicht werden? Genügt ein breites Angebot oder bedarf es mutiger, möglicherweise auch experimenteller Formen, um das Interesse der Jugend zu wecken? Darüber diskutierten Fachleute aus ganz Europa vom 11. bis 13. September auf einem Symposium im Filmforum NRW Köln. Organisiert wurde die mit Best-Practice-Beispielen aus der europäischen Dok-Szene angefüllte Tagung von der Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW.

Still aus dem Film „Ednas Tag” von Bernd Sahling.

Die implizierte Fragestellung konfrontiert bewusst mit den beiden gängigen Vorurteilen gegenüber dem Dokumentarfilm für Kinder und Jugendliche. Sie werden vor allem von Erwachsenen geäußert: Wollen Kinder und Jugendliche neben dem Fiktionalem und Animierten tatsächlich auch dokumentarische Filme sehen? Und existieren schon klare Produktions-, Sende-, Partizipations- und Vertriebsformen, um diese Bedürfnisse optimal erfüllen zu können? Erst danach stellt sich die Frage, welche Präsentationen, Strukturen und vor allem Kontexte geschaffen, verbessert oder weiterentwickelt werden müssen, um die kontinuierliche Nutzung dokumentarischer Filme zu erleichtern.

„Jeder Film ist besser als Unterricht”

In einem Impulsreferat berichtete der Dokumentar- und Spielfilmregisseur Bernd Sahling (u.a. „Die Blindgänger” und „Kopfüber”) auch von seinen praktischen Erfahrungen mit Filmworkshops für Schulklassen. Er stellte fest, dass Kinder mit ihren Handykameras längst „potenzielle Dokumentaristen” geworden sind, dass die Realität von jungen Menschen im Kino und im Fernsehen aber kaum noch vorkommt. Für den Dokumentarfilm sieht Sahling daher noch einen weiten Spielraum, der zwar bereits entdeckt wurde, aber noch nicht hinreichend genutzt wird.
Sein Kurzdokumentarfilm „Ednas Tag” über eine bosnische Schülerin, die abseits des normalen Grundschulunterrichts mühsam Deutsch lernt und von ihren MitschülerInnen nicht zuletzt wegen ihrer Unberechenbarkeit zum Teil argwöhnisch beäugt wird, wurde von den 14- bis 15-jährigen Jugendlichen der Kölner Spinxx-Redaktion, dem Onlinemagazin für junge Medienkritik, mit Interesse, aber auch mit Skepsis aufgenommen. Denn die unverhohlenen Blicke, die seine Protagonistin Edna vor laufender Kamera dem Regisseur zuwirft und die von Sympathie, Vertrauen und stiller Komplizenschaft mit ihm zeugen, wurden von ihnen als „inszeniert”, nicht genau klassifizierbar und der Film daher als nicht ganz „authentisch” angesehen.
Selbst wenn diese jungen Spinxx-Redakteure nicht repräsentativ für ihre Altersgruppe sein mögen: „Besser als Unterricht machen” fanden sie alle auf dem Symposium gezeigten Dokumentarfilme – und ihr Bedürfnis nach unverfälschter „Wahrheit” deckte sich obendrein mit den Erfahrungen der letztjährigen Schulvorstellungen des Festivals „doxs! Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche” in Duisburg. Sie kennen ähnliche Inszenierungen, insbesondere mit „schauspielernden” Protagonisten, offenbar aus Fernsehformaten der „scripted reality” und reagieren darauf sehr sensibel. Woher sollten sie auch eine Ahnung von den Debatten früherer Jahrzehnte über die „Ausgewogenheit” der Fernsehberichterstattung haben, in der die klar erkennbare subjektive Position und Parteinahme des Dokumentaristen noch als Qualitätsmerkmal galt.

„Fuck reality shows – show us reality”

Unter dem provokanten Motto: „Fuck reality shows – show us reality” produziert die dänische Firma Copenhagen Bombay das dokumentarische Videotagebuch doxwise, in dem Jugendliche ihre eigenen Geschichten erzählen und dabei von erfahrenen Regisseuren unterstützt werden. Die interaktive Plattform, die in den fünf nordischen Ländern Europas gestartet wurde und bald zu einer globalen Plattform ausgebaut werden soll, richtet sich an die Zielgruppe der 15- bis 25-Jährigen und verzeichnete 2012 fast eine Million Besucher. Der Erfolg zeigt, dass das große Bedürfnis junger Menschen nach Authentizität, nach echten und „wahren” Antworten auf existenzielle Fragen, nach Handlungsoptionen und alternativen Handlungsvorschlägen im Umgang mit den Herausforderungen des Lebens und auf die schon zu allen Zeiten schwierige Phase im Übergang zum Erwachsenenalter keineswegs verschüttet ist, sondern lediglich neuer medialer Angebote bedarf.
Seit vielen Jahren sind vor allem die Niederlande dafür bekannt, kontinuierlich hochwertige Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche zu produzieren. Dafür stehen jährlich erhebliche Finanzmittel zur Verfügung, die von den öffentlichen Sendern bereitgestellt werden. Bei „Kids & Doc” sind das allein 40.000 Euro pro Kurzdokumentarfilm. Auf der Internetplattform zappechtgebeurd.nl sind in den vergangenen 15 Jahren etwa 300 Filme eingestellt worden. Mit einem Bündel von Maßnahmen versucht man die Zielgruppe zu erreichen, mit Workshops beispielsweise unter aktiver Beteiligung der Kinder, fester Zusammenarbeit mit Festivals, Büchereien und Schulen.
Dieses unter der Bezeichnung „The Dutch Touch” bekannt gewordene niederländische Erfolgsmodell wurde auch in Deutschland zum Vorbild genommen. Es entstanden Projekte wie die Produktionsinitiative dokyou und dokmal, der junge Dokumentarfilm des WDR. Über die Internetplattform „Planet Schule” stehen die bisher 18 dort produzierten Filme mitsamt einer Fülle von weiterführenden Begleitmaterialien auch für den Unterricht zur Verfügung, denn der Sender begreift diese Form von Filmbildung auch als öffentlich-rechtlichen Auftrag, bietet darüber hinaus Workshops für Schüler und Lehrer an.
Selbst Arte, bislang nicht gerade der bevorzugte Sender bei Kindern und Jugendlichen, möchte bei dieser Entwicklung nicht außen vor bleiben und bietet auf Arte junior Kurzfassungen von längeren Dokumentarfilmen an, wie die Serie „Die gefährlichsten Schulwege der Welt” oder ein Projekt: Wie man den Ersten Weltkrieg auch schon Kindern erzählen kann.
Darüber hinaus bot das Symposium zahlreiche weitere Best-Practice-Beispiele aus anderen Ländern. Das Goethe-Institut beteiligte sich im Rahmen seiner Auslandskulturarbeit an der Dokumentarfilminitiative KID DOK in Indonesien, aus der drei kurze Dokumentarfilme entstanden sind. Eine Online-Plattform des Polnischen Filminstituts arbeitet filmpädagogisch vorzugsweise mit digitalisierten älteren Dokumentarfilmen der Polnischen Filmschule, die lizensiert wurden, und stellt somit nebenbei auch einen kleinen Teil des filmkulturellen Erbes sicher. Und die Stadtverwaltung im portugiesischen Setubal stellte sogar 88.000 Euro zur Verfügung, damit dort drei Dokumentarfilme mit Jugendlichen entstehen konnten, die später auch auf Festivals und in Schulen gezeigt wurden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es inzwischen zahlreiche Initiativen, Projekte und Plattformen gibt, die anspruchsvolle Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche produzieren, ausstrahlen, ins Netz stellen, auf Festivals zeigen und in Schulen präsentieren.

„Kinder sehen (nur!) das, was ihnen angeboten wird“

Die insgesamt positive und vielversprechende Entwicklung der letzten Jahre darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, damit Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche ihr Zielpublikum noch besser erreichen. Denn leider sind einige der inzwischen erfolgreich ins Leben gerufenen Projekte schon wieder durch Etatkürzungen bedroht. Das betrifft sogar das Erfolgsmodell Niederlande.
In den Fernsehanstalten herrscht große Verunsicherung, in welche Richtung sich das zukünftige Programmangebot entwickeln soll, zumal der Sendeplatz immer mehr zur Nebensache wird angesichts der zunehmenden Bedeutung des Internets. Aber die dort verfügbaren Filme und Angebote müssen auch gefunden werden. Für Jugendliche und insbesondere für Kinder ist das manchmal noch ein Problem. Google und Youtube allein bieten dafür keine Gewähr. Die Portale selbst müssen bekannt sein und bekannter werden, was wiederum deutliche Investitionen in die Öffentlichkeitsarbeit erfordert.
Ganz wesentlich ist, unterschiedliche Angebote und Strategien für Kinder und Jugendliche zu entwickeln. Was bei Kinobetreibern und Vertriebsfirmen im Spielfilmbereich längst schmerzhaft erkannt wurde, gilt auch für den Dokumentarfilmbereich, der wiederum aus sehr unterschiedlichen dokumentarischen Formen besteht. Es handelt sich bei Kindern und Jugendlichen um zwei völlig verschiedene Zielgruppen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen. Daher gilt es, das jeweilige Erfahrungswissen der beiden Zielgruppen besser abzurufen und in die Projekte einzubinden.
Partizipation scheint daher der neue Schlüsselbegriff. Doch „Likes” und „Dislikes” allein, also das Anklicken etwa eines erhobenen oder gesenkten Daumens, sind die Bezeichnung nicht wert. Neue Programmformen mit gleichzeitigem Erhalt der Vielfalt dokumentarischer Formen müssen gefunden werden, alternative Vertriebswege gleichermaßen. Dazu gehört eine bessere Vernetzung über die Landesgrenzen hinweg. Allein schon die föderale Struktur in Deutschland erschwert manche Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern und in den Regionalsendern. Dagegen streben die auf dem Symposium vertretenen Initiativen ausnahmslos eine stärkere europäische und sogar globale Vernetzung an.
Film ist eine Kunstform, das gilt für den Spiel- und Dokumentarfilm gleichermaßen. Neben den vermittelten Inhalten sollte daher auch die ästhetische Qualität stimmen. Nichts ist langweiliger als ein schlecht gemachter Film und Dokumentarfilme, die Kinder nur belehren oder gar manipulieren wollen, werden von diesen mit intuitivem Gespür abgelehnt. Filmkultur ist demnach wichtiger als Filmbildung allein, auch darauf müssen Lehrer und Programmverantwortliche in den Sendeanstalten noch besser vorbereitet werden.
Vor allem jedoch gilt: Den Königsweg gibt es nicht, stattdessen ist Mut zum Wagnis und zum Experiment in allen Bereichen von der Produktion bis zum Vertrieb und Einsatz in den Schulen gefragt.

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