BIENE-Award für ein Unikat

Barrierefreie Website „Chronologie des Holocaust“ ausgezeichnet

Als einziges gesellschaftspolitisches Angebot unter den ursprünglich 376 Bewerbern erhielt die Webseite „Chronologie des Holocaust“ 2006 einen BIENE-Award für vorbildliche barrierefreie Webauftritte.

„Barrierefrei“ bedeutet landläufig „behindertengerecht“. Im Fall von Internet-Angeboten heißt es mehr. Websites gelten als barrierefrei, wenn sie generell einen möglichst ungehinderten Zugang zu den Informationen gewährleisten. Das betrifft die technischen Voraussetzungen – Nutzern soll nicht die Pflicht auferlegt werden, genau die Hard- und Softwarekonstellation des Anbieters zu verwenden, Seiten sollen auch ohne Maus mit PDA und Handy navigierbar sein. Besondere Anforderungen stellt das an den strukturellen und grafischen Aufbau von Seiten, damit etwa auch blinde oder fehlsichtige User die Chance haben, die Inhalte zu verstehen.

Für Chancengleichheit im Netz

Seit 2002 ist Barrierefreiheit für Behördenseiten des Bundes Pflicht, länderabhängig auch für andere öffentliche Netzauftritte. Seit 2003 gibt es den BIENE-Award (Barrierefreies Internet eröffnet neue Einsichten), mit dem „Aktion Mensch“ und „Stiftung digitale Chancen“ die besten barrierefreien Internet-Angebote im deutschsprachigen Raum prämieren. Siebenundachtzig Kriterien nennt der strenge Anforderungskatalog, nach dem die Jury entscheidet. Im vergangenen Dezember konnten 17 Internetangebote – darunter so große wie „Help“, der Behördenführer des österreichischen Bundeskanzleramtes, die Seite der „Tagesschau“ und die Internetpräsentation des Pharmakonzerns Pfizer – sowie zwei Nachwuchsprojekte die begehrten Preise für 2006 entgegennehmen. Ausgezeichnet wurde auch die Seite „Chronologie des Holocaust“. Zwei der Macher, der Journalist Knut Mellenthin und die Designerin Eileen Heerdegen von der Agentur Pixel-Melange, sind langjährige dju-Mitglieder. Ihre Webpräsentation ist ein Unikat:
„01.03.1943 / Griechenland / Die deutschen Besatzungsbehörden ordnen an, dass alle Juden ‚zu statistischen Zwecken‘ – tatsächlich zur direkten Vorbereitung ihrer Deportation – eine genaue Erklärung über ihren Besitz abgeben müssen. 02.03.1943 / Auschwitz / … Mit einem weiteren Transport aus Berlin kommen nochmals 1.500 Menschen in Auschwitz an. 150 Männer werden als Häftlinge regis­triert, die anderen Menschen werden in den Gaskammern getötet.“ So liest sich die Abfolge des Völkermords. „Chronologie des Holocaust“ ist eine Tag-für-Tag-Chronik der Jahre 1933 bis 1945. Zusammengestellt sind Informationen über alle Ereignisse und Tatsachen, die mit dem Vernichtungsfeldzug des deutschen Faschismus gegen die europäischen Juden zusammenhängen. Berichtet wird lakonisch, wissenschaftlich exakt und mit Quellen fundiert. Dass sich der Autor jeder Wertung enthält, ist der Darstellung ebenso zuträglich wie die einfache Sprache. Auch der weitgehende Verzicht auf Fotos trägt dazu bei, dass sich das Grauen aus der reinen zeitlichen Abfolge und den Tatsachen selbst erschließt.
Mellenthin konzipierte seine Chronik über den schleichenden Vernichtungsprozess „wie ein Lesebuch“. Und als Buchprojekt begann er vor 15 Jahren auch daran zu arbeiten. Da sich kein geeigneter Verlag finden ließ, wurde schließlich die Idee der elektronischen Umsetzung geboren, die zudem die permanente Erweiterung der Seite ermöglicht.
Entstanden ist eine einzigartige, politisch wichtige und exklusive Seite, die optisch kongenial umgesetzt wurde. Dass die Präsentation auch Barrierefreiheit auf höchster Anforderungsstufe gewährt, gehört zum Konzept. Es sollte „gerade bei diesem Thema ein möglichst großer Nutzerkreis“ Zugang finden. Behinderte sollten „auf gar keinen Fall ausgeschlossen werden“. Die Seite gestattet nicht nur die Betrachtung in unterschiedlichen Schriftgrößen und in Kontraststufen, sie bietet neben der Text-Vollversion auch zwei unterschiedlich gekürzte Fassungen. Abkürzungen, Fremdwörter, Personen und Ereignisse werden mit einem direkt aufrufbaren Glossar erläutert. Blinde Besucher können sich die Inhalte mit Hilfe eines Screen-Readers vorlesen lassen. Allein das machte es nötig, jedes Zitat oder fremdsprachliche Wort im Text bei der Gestaltung per Hand zu markieren – eine immense Arbeit bei der aus 500 Seiten und mehr als 2.000 Einzeltexten bestehenden Chronologie.

Verdiente Werbung für immense Arbeit

Die Gestaltungsarbeiten mit dem Open Source Content Management Sys­tem „TYPO3“ dauerten ein knappes Jahr, bevor die Seite im Juli 2006 ins Netz ging. Aktualisierung, Vervollkommnung und Wartung werden erleichtert, weil das Sys­tem die Betreiber in die Lage versetzt, die Seite selbst zu pflegen. Laufende Lizenzgebühren fallen nicht an. Das war wichtig, weil das gesamte Projekt von den Machern allein mit Enthusiasmus und unter Einsatz eigener Ersparnisse erarbeitet wurde.
Der undotierte BIENE-Award war willkommene Werbung für die Seite, die trotz ihres einmaligen Angebots bis dahin von den großen Medien ignoriert worden war. Mittlerweile gibt es bis zu 2.500 Besucher pro Tag und eine Menge Feed-Back – vom schlichten Dank bis zu konkreten inhaltlichen Nachfragen. Ein gezielter Einsatz im Schulunterricht oder durch Museen stünde aus, so Heerdegen. Die Gestalterin ist jedoch im Gespräch mit Behindertenverbänden. Mit Hilfe von Fördergeldern könnten beispielsweise Gebärden-Videos eingebunden werden. Sponsoren, die die aufwändige Weiterarbeit an der Chronologie unterstützen möchten, sind herzlich willkommen!

www.holocaust-chronologie.de
www.pixel-melange.com
www.biene-award.de

 

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