Kinder und Jugendliche verbringen bis zu sieben Stunden pro Tag mit Medien. Ein Großteil von ihnen widmet Computer und Fernseher mittlerweile mehr Zeit als Schule und Schularbeiten. Kein Wunder, dass Medienkompetenz als Schlüsselqualifikation für das Informations- und Kommunikationszeitalter gilt. Ebenso unstrittig aber ist: Es wird viel zu wenig getan.
Naturgemäß nimmt die Mediennutzung zu, je älter man wird, doch schon im Kindergartenalter stellen die Medien eine feste Größe im Alltag dar. Die Gesellschaft reagiert darauf unterschiedlich: Während Populisten vor einer Jugend warnen, die die Welt nur noch aus dem Fernsehen kennt und am Computer gelernt hat, Konflikte mit Gewalt zu lösen, setzen Pädagogen auf Medienkompetenz. Das ist auch notwendig: Parallel zur Vervielfachung des TV-Angebots hat sich die Gesellschaft verändert. Einstige Großfamilien gibt es nur noch in ursprünglichen Dorfgemeinschaften. Haushalte werden immer kleiner, so dass viele Kinder tagsüber sich selbst überlassen sind: weil sie nur noch von einem Elternteil erzogen werden oder beide Elternteile arbeiten. Urbane Wohngegenden werden zudem immer kinderfeindlicher: Etats werden gestrichen, Jugendzentren geschlossen. Folgerichtig spielen Kinder heute völlig anders als vor zwanzig, dreißig Jahren. Viele der modernen Beschäftigungsformen – Fernsehen, Gameboy, Video – und Computerspiele – können allein durchgeführt werden. Und weil der souveräne Umgang mit dem Computer in vielen Fällen Voraussetzung für Arbeitsplatz und Studium ist, stehen mancherorts längst die ersten Computer in den Kindergärten. Viele Eltern sind fassungslos. Dem pädagogischen Argument, Kinder lernten so schon früh spielerisch leicht, was ihnen später mühsam beigebracht werden müsse, setzen sie ihre Furcht entgegen, die Kleinen würden nun noch mehr Zeit an Bildschirmen verbringen und noch früher dem Reiz der berüchtigten „Killerspiele“ erliegen.
Dieser etwas zugespitzten Zustandsbeschreibung stehen die völlig entgegengesetzten Erkenntnisse der Wissenschaft gegenüber. Kinder aus stabilen sozialen Verhältnissen, sagen Medienpsychologen und -pädagogen, halten mehr aus, als Erwachsene ihnen im Allgemeinen zutrauen. Der Medienpädagoge Ben Bachmair vertritt den Standpunkt, Kinder bauten sich aus Fernsehschrott eigene Kunstwerke. Und der bekannte Ratgeber-Autor Jan-Uwe Rogge prägte in seinem gleichnamigen Buch mit stellvertretendem Selbstbewusstsein das Motto „Kinder können fernsehen“. Beide unterstellen den Erwachsenen, sie projizierten eigene Ängste in die Kinder. Die nackten Zahlen geben den Forschern recht. Erwachsene widmen dem Fernsehen fast drei mal so viel Zeit wie Kinder, die Sehdauer älterer Menschen liegt gar bei durchschnittlich fünf Stunden. Andererseits belegen regelmäßige Untersuchungen der Mediennutzung, dass sich die Vorlieben der Kinder und Jugendlichen eindeutig zugunsten von Bildschirmmedien verschoben haben. Gelesen wird immer weniger. Tageszeitungen, Zeitschriften und Bücher spielen aber nicht zuletzt deshalb immer kleinere Rollen, weil auch die Eltern die meiste Freizeit dem Fernsehen widmen.
Zweitapparat im Kinderzimmer
In praktisch allen Haushalten mit mehr als einem Gerät steht der Zweitapparat im Kinderzimmer; 36 Prozent der Zehnjährigen haben einen eigenen Fernseher (in Ostdeutschland sind es über 50 Prozent). Viele Eltern glauben irrtümlich, alles, was vor 20 Uhr ausgestrahlt wird, sei auch „jugendfrei“. Das Nachmittagsprogramm der Privatsender scheint für Kinder allerdings kaum geeignet. Gerade in den Gerichtssendungen geht es regelmäßig um Mord und Totschlag, Raub und Vergewaltigung, ausgefallene sexuelle Praktiken etc. Auch „Daily Soaps“ wie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ werden gerade von Jugendlichen schon früh zur Orientierung genutzt. Diese Konfrontation mit Inhalten, die sich eigentlich an Ältere richten, hat laut amerikanischen Soziologen zum „Kagoy“-Syndrom geführt. „Kids are getting older younger“: Kinder werden immer früher älter. So haben beispielsweise die heute 3- bis 5-Jährigen bereits ein Markenbewusstsein entwickelt, das Kinder vor einigen Jahren erst mit acht oder neun Jahren hatten. Dank Fernsehen wissen sie heute ungleich mehr über die Welt als die Altersgenossen früherer Jahrzehnte, sprich: ihre Eltern.
Die Entwicklung der Medienlandschaft hat vor allem Folgen für den Einzelnen: Weil die früher allseitig akzeptierten Werte und Normen in Frage gestellt werden, muss er sich neue suchen. Die Medien bieten ihm dabei eine Fülle von Anregungen. Natürlich wird es bei Jugendlichen, die unter vergleichbaren Bedingungen aufwachsen, viele Parallelen geben; aber eben auch Unterschiede. Das gleiche gilt für das Maß an Medienkompetenz, über das sie verfügen. Selbstverständlich ist Medienerfahrung nicht gleichzusetzen mit Medienkompetenz; doch je größer und vielfältiger die Erfahrungen eines Jugendlichen auf diesem Gebiet sind, desto leichter wird er sich Medienkompetenz aneignen.
Medienerfahrungen sind also nur ein Schritt zur kommunikativen Kompetenz. Der 1971 erstmals von Jürgen Habermas in der Sozialwissenschaft verwendete Begriff wurde von Dieter Baacke 1973 in die Medienpädagogik eingeführt. Unter kommunikativer Kompetenz ist die umfassende Fähigkeit des Menschen zu verstehen, sich mittels des Austausches von Symbolen sprachlicher und nicht-sprachlicher Art zu verständigen. Die Mitteilung an andere kann dabei sowohl direkt erfolgen, etwa durch Sprechen, als auch indirekt, also durch Mittler wie beispielsweise die Medien. Für Baacke setzt sich Medienkompetenz aus vier gleichwertigen Bestandteilen zusammen: Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung, Mediengestaltung. Mediennutzung, zum Teil sogar Mediengestaltung beginnt mittlerweile bereits im Kindergarten, spätestens aber in der Grundschule, selbst wenn Computer in beiden Einrichtungen noch nicht die Regel sind.
Zwischen Realität und Fiktion
Die so genannten bewahrpädagogischen Konzepte früherer Jahre werden in Fachkreisen mittlerweile sowieso belächelt. Der renommierte Medienpädagoge Bernd Schorb (Universität Leipzig) geht davon aus, dass Kinder heute aufgrund der ungleich größeren Medieneinflüsse viel früher zwischen Realität und Fiktion differenzieren können. Gestiegen sei auch ihre Fähigkeit, rasche Bildfolgen aufzunehmen. In dieser Hinsicht sind viele Kinder bereits ihren Eltern überlegen, die den schnell geschnittenen Videoclips bei MTV oder Viva mitunter kaum folgen können. Schorb betont aber auch, dass das Differenzierungsvermögen der Kinder nicht zuletzt von den Eltern abhänge. Weil Kinder schon in jüngeren Jahren mit Inhalten konfrontiert würden, müssten Eltern auch früher entsprechende Fragen beantworten. Sicherlich führe dies auch zu größerer Medienkompetenz. Doch diese Kompetenz allein sei ja nicht gleichbedeutend mit einem automatischen Schutz vor Wirkungen. Man bekomme kein „dickes Fell“, nur weil man wisse, wie Fernsehen funktioniere. Als Beleg führt Schorb seine eigene Studie „Mordsbilder“ an, bei der die Kinder mit Ekel statt mit Mitleid auf gewalthaltige Bilder reagiert haben. Würde Medienkompetenz immun gegen mediale Reize machen, würden Erwachsene im Kino nicht weinen, schließlich wissen sie ja, dass es „nur Kino“ ist. Auch die Erkenntnis, dass es sich bei gewalttätigen Darstellungen um Fiktion handelt, schützt laut Schorb nicht vor einer möglichen Wirkung. Wenn Kinder allerdings wüssten, dass ein Gewaltakt real und eben kein „Kino“ ist, sei die Wirkung entsprechend stärker.
Der Medienwissenschaftler Hans-Dieter Kübler betrachtet Medienkompetenz vor allem vor dem Hintergrund der „media literacy“. Neben den Kenntnissen über Organisationsformen des Rundfunks und Wissen über Inhalte benötige man auch Fähigkeiten, die verschiedenen Genres und dramaturgischen Präsentationsformen unterscheiden und kritisch beurteilen zu können. Fernsehen und andere Medien bieten spezifische Textsorten, die Kinder und Jugendliche kennen und in ihren Absichten lesen lernen müssen.
Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass Medienkompetenz nicht auf Kinder und Jugendliche beschränkt werden darf. Doch während trotz knapper Kassen regelmäßig Geld in medienpädagogische Projekte investiert wird, haben Erwachsene kaum noch Gelegenheit, ohne viel Aufwand etwas für ihre Medienkompetenz zu tun. Eigentlich wäre dies eine dankbare Aufgabe für Medienfachjournalisten, doch die meisten Medien halten sich in dieser Hinsicht lieber bedeckt: Nach einer kurzen Blütephase Ende der Neunzigerjahre ist gerade in den Tageszeitungen Medienberichterstattung längst wieder gleichbedeutend mit Vorschauen aufs abendliche Fernsehprogramm.
Kinder und Jugendliche haben es da ungleich besser. Die Förderung von Medienkompetenz ist neben Lizenzierung und Kontrolle des privaten Rundfunks längst fester Bestandteil des Aufgabenkatalogs der Landesmedienanstalten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Maßnahmen, die die Medienkompetenz von Kindern und Jugendlichen unterstützen, ohne dabei Eltern, Pädagogen und Multiplikatoren außer acht zu lassen. Der Aufgabenkatalog umfasst im Wesentlichen die Aspekte Forschung, Informations- und Bildungsangebote, partizipative Medienarbeit, Aus- und Fortbildung sowie Vernetzung. Der Bereich Forschung soll neben konkreten Projekten die medienpädagogische Debatte wissenschaftlich begleiten. Er befasst sich vor allem mit der Wirkung von Medien auf Kinder und Jugendliche. Zu den Informations- und Bildungsangeboten zählen Orientierungshilfen und Planungsgrundlagen (von einzelnen Medienpaketen über medienpädagogische Atlanten bis zu Medienkompetenzzentren). Einen Überblick über alle Projekte bietet www.alm-medienkompetenz.de.
Besondere Erwähnung verdient das Projekt „Flimmo“. Finanziert vom Verein „Programmberatung für Eltern“, dem sämtliche Landesmedienanstalten angehören, und erstellt vom JFF-Institut, führt die Zeitschrift seit acht Jahren Eltern und Kinder durch‘s TV-Angebot. „Flimmo“ nimmt die Kinder ernst, respektiert ihre Bedürfnisse (zum Beispiel das nach Unterhaltung) und beurteilt das Fernsehprogramm ohne erhobenen Zeigefinger. Abgerundet wird „Flimmo“ durch Beiträge zu aktuellen medienpolitischen Themen, Neuigkeiten aus Medienlandschaft und -forschung sowie Hintergrundinformationen zu besprochenen Sendungen.
Abgesehen von „Flimmo“ können sämtliche Maßnahmen nur dann erfolgreich sein, wenn sie Teil eines gesamtgesellschaftlichen Konzepts sind. Führende Medienpädagogen fordern daher seit langem, in den Schulen müsse die handlungsorientierte Medienkompetenzförderung endlich Teil des Stundenplans werden. Tatsächlich wird sie, wo sie bereits Bestandteil ist, nicht in ihren vollen Möglichkeiten umgesetzt: „Handlungsorientiert“ meint ja nicht nur die Handhabung von Computer und Internet, sondern die Nutzung dieser Handwerkszeuge als Kommunikationsmittel zum Ausdruck des eigenen Anliegens. Ein eigener Radio- oder Videobeitrag im Deutschunterricht ist sicherlich das Ideal, aber eher die Ausnahme. Dank des heutigen technischen Standards ist dieses Vorhaben jedoch bei weitem nicht mehr so unüberwindlich wie noch vor einigen Jahren. Der Software-Markt bietet kostengünstige Video- und Tonschnittprogramme an, mit denen sich ein semiprofessioneller Beitrag relativ einfach gestalten lässt.
Medienpädagogen kritisieren allerdings auch, dass zugunsten der Medienpraxis die Medienliteralität vernachlässigt werde, also Fragen wie „Kann ich Formate und ihre Eigenheiten erkennen und kritisch lesen?“. Genau das dürfte in der Masse der Angebote ein zentraler Punkt sein. Von entscheidender Bedeutung sei zum Beispiel die Frage „Welches Medium und welches Format bietet mir vertrauenswürdige Informationen?“. Die medienpädagogischen Projekte der Landesmedienanstalten berücksichtigen gerade diese Forderung nach Medienliteralität. Die partizipative Medienarbeit findet in Form Offener Kanäle und nichtkommerzieller Lokalradios statt, die zu einem großen Teil aus den Etats der einzelnen Landesmedienanstalten finanziert werden. Neben konkreten Kanälen für die Aus- und Fortbildung stellen sie auch Konzepte für den journalistischen Nachwuchs zur Verfügung und fördern entsprechende Bildungseinrichtungen. In Thüringen gibt es mit „Pixel“ sogar einen offenen Kanal für Kinder. Die Vernetzung der Einrichtungen untereinander soll schließlich dazu beitragen, Synergieeffekte durch Kooperationen der vielfältigen Projekte und Initiativen zu erzielen.
Teilhabe im Offenen Kanal
Konzipiert wurde diese Form von Gegenöffentlichkeit vor gut zwanzig Jahren als gewissermaßen dritte Säule des dualen Systems. Die Bürgermedien, die im europäischen Vergleich nahezu einzigartig sind, waren sogar medienpolitische Voraussetzung für das System aus öffentlich-rechtlichen und kommerziellen Hörfunk- und Fernsehsendern. Im Januar 1984 und damit zur gleichen Zeit wie der erste private Fernsehsender Sat.1 ging in Ludwigshafen nach amerikanischem Vorbild der erste Offene Kanal Deutschlands auf Sendung. Im Gegensatz zum werbefinanzierten Kommerzsender, der damals gleichfalls noch in Rheinland-Pfalz residierte, sollte er eine „proletarische Öffentlichkeit“ herstellen.
Offene Kanäle sollen als „Vielfaltsreserve“ und „Rundfunk der dritten Art“ unzensiert und werbefrei all jenen Gehör verschaffen, die ansonsten von den Medien ausgegrenzt werden. Sie sind „Partizipationsmedien“ für benachteiligte Gruppen und bieten die Möglichkeit zur medienbezogenen Gruppenerfahrung. Ihr Ziel ist es, gemäß der Brechtschen Radiotheorie aus dem Distributionsapparat Rundfunk einen Kommunikationsapparat zu machen und so die politische und kulturelle Emanzipation der Bürger durchzusetzen. Laut Brechts Theorie soll im Idealfall jeder Empfänger gleichzeitig auch Sender sein; die Offenen Kanäle stehen daher ohne Einschränkung jedermann offen. Grenzen sind allein durch das Grundgesetz gesetzt: Pornografie, Aufstachelung zu Rassenhass oder nationalsozialistische Propaganda sind verboten, desgleichen Werbung für politische oder religiöse Gemeinschaften.
Die heutige Praxis sieht allerdings anders aus als in Brechts Theorie: Der typische Anbieter im Offenen Kanal ist eher männlich und jung, stammt aus der Mittelschicht, hat eine höhere Schullaufbahn absolviert und sieht in der Programmgestaltung nicht etwa ein politisches Instrument, sondern eine Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Er sendet nicht, um die Welt zu verändern, sondern für Gleichgesinnte. Sein Hauptmotiv: „Spaß an der Arbeit mit Medien“. Aus diesem Grund scheint der Begriff „Gegenöffentlichkeit“, der aus der Bewegung der freien Radios stammt, nicht mehr angebracht. Am demokratischen Prinzip und am unschätzbaren Beitrag der Sender zur Medienkompetenz zumindest der Macher hat diese Entwicklung jedoch nichts geändert.
Kinder und Medien
Unser Autor Tilmann P. Gangloff beschäftigt sich seit 25 Jahren mit dem Thema „Kinder und Medien“ und hat dazu auch zwei Bücher verfasst: „Ich sehe was, was du nicht siehst. Medien in Europa: Perspektiven des Jugendschutzes“; Vistas Verlag, Berlin 2001. „Schlechte Nachrichten, schreckliche Bilder. Mit Kindern belastende Medieneindrücke verarbeiten“; Herder-Verlag, Freiburg 2002.