Kein Haussegen am Obergraben

Nach Journalisten-Arbeitskampf geht Chefredakteur der „Siegener Zeitung“ gegen Radio Siegen vor

Aus dem Tarifkonflikt, den die Tageszeitungsredakteure im Dezember ausgetragen haben, ist in Siegen mehr geworden: ein Lehrstück über den Zustand der Branche, die dafür antritt, Wächter der Demokratie zu sein – anderswo, nicht in eigener Sache. … Am Siegener Obergraben ist die Spitze eines Eisbergs unverhofft sichtbar geworden. Aus Hausnummer 33 sendet Radio Siegen, in Hausnummer 39 wird die „Siegener Zeitung“ gemacht.

Bereits eine Woche lang hatten die Abonnenten von „Westfälischer Rundschau“ und „Westfalenpost“ nur Zeitungen mit arg gerupften Lokalteilen in den Briefkästen vorgefunden. Die Meldungen im politischen Teil dieser Blätter über die Auseinandersetzung zwischen Verlegern und Gewerkschaften lasen sich so, als ob das Produkt davon nicht betroffen sei. Erst über Meldungen und Beiträge im WDR-Fernsehen und -Hörfunk erfuhr das Siegerländer Publikum von halbleeren und leeren Redaktionen. 1200 Journalisten in Nordrhein-Westfalen waren auf der Straße. Dringeblieben: die Redaktion der „Siegener Zeitung“.

„Kommt raus, wenn ihr Kollegen seid!“

„Kommt raus, wenn ihr Kollegen seid“, schallte es am Tag vor Nikolaus am Obergraben. Vorgefahren war der Bus mit Redakteurinnen und Redakteuren aus Südwestfalen. Fahrtziel war die Streikversammlung in Bonn, und es waren noch Plätze frei für die Redakteurinnen und Redakteure der Heimatzeitung vom Obergraben. „Wir sind dabei“, heißt der Slogan des Lokalsenders Radio Siegen. Und der berichtete auch hierüber: über den Journalistenstreik in Siegen, über die verschlossenen Fenster am Obergraben, über den Unmut der Streikenden, von den Kolleginnen und Kollegen im Regen stehen gelassen zu werden, für deren Interessen mitzukämpfen und dafür in den jeweils eigenen Häusern auch noch Repressionen ausgesetzt zu sein. Als der Arbeitskampf zwei Wochen später schließlich beendet war, hatte der Krieg am Obergraben erst richtig begonnen.

Radio Siegen steht auf zwei Säulen: Der wirtschaftliche Betrieb gehört den Zeitungsverlagen der „Siegener Zeitung“ (rund 50 Prozent), der „Westfälischen Rundschau“ und der „Westfalenpost“ (25 Prozent), dem Kreis Siegen-Wittgenstein (15 Prozent) und der Stadt Siegen (10 Prozent). Diese „Betriebsgesellschaft“ investiert und profitiert, während die „Veranstaltergemeinschaft“ allein das Programm verantwortet. An dieses Gremium, dem Vertreter von rund 20 gesetzlich bestimmten, gesellschaftlich relevanten Gruppen (Entsender sind unter anderem Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen, Kreistag, Umweltverbände und Radiovereine) angehören, wandte sich Dr. Eberhard Winterhager, Chefredakteur der „Siegener Zeitung“.

Protest gegen Radio-Berichterstattung

Der Zeitungschef beschwerte sich über die Radio-Berichterstattung, sah sein Blatt und die Redaktion „an den Pranger gestellt“, sprach gar von „Geschäftsschädigung“. „Vollkommen unjournalistisch“ habe der Sender eine „marginale Angelegenheit“ zum Thema gemacht und dazu noch nicht einmal eine „offizielle Stellungnahme unseres Hauses“ eingeholt. Der Chefredakteur des Senders, Uwe Haring, habe wohl „wegen seiner eigenen Gewerkschaftsbindung mutmaßlich sogar die Fäden in der Hand gehalten“, heißt es in dem dutzendfach verbreiteten Winterhager-Brief. Winterhager verlangte von der Veranstaltergemeinschaft schließlich einen „ordnenden Eingriff“ in die Radio-Redaktion und kündigte einstweilen an, in der „Siegener Zeitung“ „Gefälligkeitsveröffentlichungen für Radio Siegen zu unterbinden“.

Die Veranstaltergemeinschaft und ihr Vorstand reagierten, stellten sich hinter ihre Radio-Redaktion. Daß die „Siegener Zeitung“ nicht am Pranger stand, war ernsthaft nicht zu bestreiten. Deren Redaktion hatte sich sogar nach der Obergraben-Aktion zu einer Entschließung durchgerungen, in der sie die Solidarität mit den Streikenden bekundete und die eigene Nicht-Teilnahme damit begründete, sie fühle sich dem sozialen Frieden im Hause verpflichtet.

Die Geschichte mit der journalistischen Fairneß und der geforderten Gegendarstellung blieb dem Sender und seinen Programmverantwortlichen zunächst auch unklar: Schließlich war berichtet worden, daß der Bus am Obergraben gehalten hatte und daß die Zeitungsredaktion nicht eingestiegen war. Dies waren die „Tatsachenbehauptungen“, die allein gegendarstellungsfähig gewesen wären – aber daß die stimmten, ist unbestritten. Die „Westfälische Rundschau“ verstand besser, was vorging. In einer Kolumne zur Obergraben-Affäre erinnerte sie daran, daß „Siegener-Zeitungs“-Chef Winterhager es – gerichtsnotorisch – mit der Trennung von Nachricht und Kommentar nicht allzu genau nimmt. Am eigenen Leibe erfahren hatte dies Siegens Stadtdirektor Ulrich Mock, als er vergeblich versucht hatte, eine Gegendarstellung in dem Heimatblatt unterzubringen. Der in nachrichtliches Gewand verpackte Text, so hatte die Analyse des Richters ergeben, habe gar keine gegendarstellungsfähigen Informationen, sondern vor allem – nicht gegendarstellungsfähige – Kommentierungen enthalten.

Der Westdeutsche Rundfunk griff schließlich in einem Fernsehbeitrag den Krach auf, beschrieb ihn – etwas ungenau formuliert – als Konflikt des Lokalsenders mit seinem „eigenen Geldgeber“, den sich das „verlagseigene Radio durch „nicht gerade positive Berichterstattung“ über die Zeitung eingehandelt habe. Chefredakteur Winterhager nahm nochmals Gelegenheit, sein Verständnis von Journalismus zu formulieren. Ein „völliges Novum“ sehe er darin, daß über etwas berichtet werde, was gar nicht stattgefunden habe – nämlich, daß seine Redakteure nicht gestreikt hätten. Winterhager wagte vor der Fernsehkamera den Vergleich: Seine Redakteure würden aus dem Parlament ja auch nicht „über die Abgeordneten berichten, die nichts sagen“. Abgesehen davon, daß solche Geschichten spannend sind und gern gemacht werden, erinnerte dies manchen zuschauenden Journalisten denn doch arg an den Witz, der Volontären gern erzählt wird, um sie vor kapitalen Fehlern zu bewahren. Wird ein Reporter zur Fürstenhochzeit geschickt, kehrt mit leerem Block und ohne Fotos zurück: „Kann ich nichts drüber schreiben. Die Braut ist nicht gekommen …“

Fürs Lehrbuch getan dann auch die weiteren Äußerungen des Zeitungs-Chefs: Die Streik-Kundgebung vor seinem Haus sei „offensichtlich unter Mitwirkung von Radio Siegen zustandegekommen“, das Ganze sei ein „inszeniertes Stück“ gewesen. Das folgert Winterhager allein aus der Tatsache, daß die Berichterstattung erfolgte. Denn, so erklärt es Winterhager dem WDR-Reporter, „die haben sich zur richtigen Zeit da getroffen, die haben sich da ja nicht gerade zufällig gesehen …“ Gut zu wissen, wie zufällig die „Siegener Zeitung“ ihrerseits es schafft, immer dann im Rathaus zu sein, wenn dort Ratssitzung ist. Hans-Jürgen Beineke, Vorsitzender der Veranstaltergemeinschaft von Radio Siegen und CDU-Kreistagsabgeordneter, schmunzelte trotzdem nicht und erwiderte knochentrocken: Radio Siegen habe nichts anderes getan, als der unbestreitbaren „Berichterstattungspflicht“ nachzukommen. Radio-Chefredakteur Haring erzählte, seine Mitarbeiter hätten sich sogar die Mühe gemacht, die von Winterhager reklamierte „Gegenseite“ zu befragen, die nicht-streikenden „Siegener-Zeitungs“-Redakteure nämlich. Die seien aber nicht bereit gewesen, ihre Meinung ins Mikrofon zu sagen. Vielleicht, aber das ist jetzt wirklich eine Unterstellung, weil diese Meinung dem Frieden im Hause „Siegener Zeitung“ gar nicht zuträglich gewesen wäre?

Wenn die „Siegener Zeitung“ das wirklich will, wird die Landesanstalt für Rundfunk die Akte aufmachen und den Vorgang prüfen. Das geneigte Publikum weiß jedenfalls nun, mit welchen Bandagen das Haus „Siegener Zeitung“ kämpft, wenn vor seiner Tür die falschen Lieder gesungen werden.

 

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