Deutscher Presserat: Leser sensibler beim Opferschutz
Die Zahl der Online-Beschwerden an den Deutschen Presserat ist 2010 weiter gestiegen, in doppelter Hinsicht: Zum einen haben sich mehr Menschen über Internetseiten beschwert, zum anderen nutzen inzwischen 70 Prozent der empörten Leser die Möglichkeit, ihre Einwände per Mail oder mittels des neuen Beschwerdeformulars auf elektronischem Weg vorzutragen.
Insgesamt sind bis Mitte Oktober 1500 Beschwerden eingegangen, so dass Bernd Hilder, Sprecher des Presserats und Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, bis zum Jahresende von rund 1.600 Beschwerden und damit einer Steigerung von 26 Prozent ausgeht. Dabei gab es zwei herausragende Fälle, die viele Klagen auf sich zogen und zum Teil gebündelt behandelt wurden: Die Berichterstattung zur Love-Parade in Duisburg (245 Beschwerden) und das Titanic-Titelblatt zu Kinderschändern in der katholischen Kirche (198). Dabei zeige sich, berichtete Hilder bei der Jahrespressekonferenz Ende Oktober in Berlin, dass in sozialen oder kirchlichen Netzwerken und via Twitter für eine Beschwerde beim Presserat geworben werde und diese auch innerhalb weniger Tage beim Presserat eintreffen. Als Vergleich dienten dem Presserat die „nur“ 81 Beschwerden, die dem Amoklauf in Winnenden folgten. Die Leser seien sensibler beim Opferschutz, meinte Hilder.
Der Presserat hat zur Berichterstattung über Amokläufe seither einen Leitfaden erarbeitet und ins Netz gestellt. Online ist auch der Bericht zum Redaktionsdatenschutz zu finden. www.presserat.de Gedruckt erschien das Jahrbuch, das sich diesmal mit Leserforen beschäftigt.
Schon im Jahr 2009 war die Zahl der Beschwerden um 74 Prozent gestiegen, da sich der Presserat als freiwillige Selbstkontrolle auch für journalistisch-redaktionelle Online-Publikationen und moderierte Foren von Verlagen zuständig erklärt hat. Der Presserat beschäftigt sich aber nach wie vor nicht mit Internetportalen einzelner Journalisten. Auf Beschwerden reagierten die Verlage immer schneller und versuchten, auch durch den direkten Kontakt zum Kläger den Grund des Anstoßes und des Verfahrens zu beseitigen. „Das begrüßen wir sehr“, sagte Hilder.
Bisher haben die Beschwerdeausschüsse in diesem Jahr 740 Klagen behandelt, „aber zwei Sitzungen kommen noch“. Die Zahl der öffentlichen Rügen hat bereits 21 erreicht (2009: 22), nicht-öffentliche Rügen gab es sieben (2009: acht). Die Rügen zum Opferschutz gingen unter anderem an Bild Online, das WAZ-Portal Der Westen, die Sächsische Zeitung, die Nordwest-Zeitung oder Bravo-Girl. Die Goslarsche Zeitung wurde für ein gewalttätiges Video auf ihrer Internetseite gerügt. Der Pressekodex habe sich dabei auch für diese neue Spielart in der ursprünglich auf Printmedien ausgerichteten Arbeit als geeignet erwiesen, unterstrich Hilder. Insgesamt betrafen ein Drittel aller Beschwerden die Ziffer 7 des Pressekodexes, der die Trennung von Werbung und Redaktion vorschreibt.
Der Umgang mit den Möglichkeiten des Internets wird den Presserat in Zukunft noch stärker beschäftigten. Hilder verwies dabei auf die Beschaffung von Opferfotos aus sozialen Netzwerken, die vom Schweizer Presserat hart verurteilt wurde. Im Deutschen Presserat dauere die Diskussion darüber noch an. Weitere Themen sieht Hilder bei Portalen wie Wikileaks oder Google Street View und prophezeite „noch heftige Debatten“ über eine Regulierung des Internets.
Nach Meinung des Presserats sei für Geo-Datendienste keine Regulierung notwendig. Sollte das aber geplant werden, dann müsse besondere Aufmerksamkeit darauf verwandt werden, dass die Panorama- oder Straßenbildfreiheit für Bildjournalisten nicht eingeschränkt werden dürfe. „Wer dies beschränkt, leitet das Ende der Informationsfreiheit ein“.
Zur größeren Beachtung des Internets in der Arbeit des Presserats tragen die Online-Archive der Verlage bei. Namen und Daten sind hier schnell und vor allem immer wieder verfügbar. Auch dazu hat es Beschwerden gegeben. Internet, Foren und Online-Archive sind auch vorrangiges Thema beim Treffen der europäischen Presseräte Anfang November, erläuterte Presseprecherin Ella Wassink. Der Presserat selbst hat im Oktober eine Datenbank mit einer Fallsammlung seiner Spruchpraxis seit 1985 auf seiner Homepage veröffentlicht.
Lutz Tillmanns, Geschäftsführer des Presserats, konzentrierte sich in seinen Ausführungen auf wichtige medienpolitische Themen. So begrüße der Presserat im Bündnis der Medienverbände und -unternehmen, dem auch die dju in ver.di angehört – die Entscheidung des Bundesrats, das Pressefreiheitsgesetz passieren zu lassen. Damit werde der Informantenschutz gestärkt und der Paragraf 353b des Strafgesetzbuches entschärft, der Journalistinnen und Journalisten dem Vorwurf der Beihilfe zum Geheimnisverrat aussetzt. Mehr Überzeugungsarbeit will der Presserat bei Politikern noch in Hinsicht auf den Abhörschutz von Journalisten leisten. Sie müssten die gleiche Sicherheit bekommen, die Rechtsanwälten inzwischen versprochen worden sei – ein Ziel, das auch für das anstehende Nachfolgegesetz zur Vorratsdatenspeicherung gelte.
Empört äußerte sich Tillmanns über die Zunahme der Akkreditierungsablehnungen von Journalisten bei Großereignissen, von Politgipfeln bis zu Weltmeisterschaften. Vor zehn Jahren sei dies für den Presserat noch kein Thema gewesen, doch nun sei ein immer restriktiveres Vorgehen und damit eine Beschränkung der Informationsfreiheit zu beobachten. Der Presserat fordert deshalb, dass den Betroffenen die Gründe der Ablehnung mitgeteilt und bei den Sicherheitsbehörden konkrete Ansprechpartner benannt werden müssten. Außerdem sollten die erhobenen Daten anschließend gelöscht werden, so Tillmanns.