Zugangserschwerungsgesetz gegen Kinderpornografie, Netzwerkdurchsetzungsgesetz gegen Hate Speech – sind das staatliche Regulierungsversuche oder Zensur? „Der Glaube an ein freies Netz, das man schützen kann, verschwindet nach und nach“, konstatiert Digitalisierungsforscherin Julia Pohle vom Wissenschaftszentrum Berlin WZB. Sie untersucht in der Projektgruppe „Politikfeld Internet“, wie moderne Gesellschaften die Digitalisierung gestalten können.
Bundeskanzlerin Merkel bezeichnete das Internet 2013 noch als „Neuland“, seit März dieses Jahres hat Deutschland mit Dorothee Bär eine Staatsministerin für Digitales. Doch Julia Pohle äußert sich auf regierungsforschung.de skeptisch, dass damit ein neues institutionell verankertes Politikfeld Internet entsteht. Auch Jeanette Hofmann, Leiterin der WZB-Projektgruppe, sagte jüngst auf der Re:publica in Berlin, man brauche „weniger ein Ministerium“, als vielmehr „eine inhaltliche Vision“. Die Gemeinwohlrelevanz sei entscheidend, um Internetpolitik, die in Deutschland aus der Nische ins Rampenlicht kam und wieder im Abseits verschwand, langfristig zu etablieren.
Während der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) im Mai zeichnete Julia Pohle nach, wie sich die Diskurse und Vorstellungen zum Internet seit den 1980er Jahre bis heute in Deutschland verändert haben – zwischen konkurrierenden Interessen von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Ihr historischer Abriss basiert auf Dokumentenanalysen und berufsbiografischen Interviews.
Von der „Computer-Subkultur“ zur „Informationsgesellschaft“
In den 1980er Jahren gab es die Datennetze der Bundespost, die damals als Fernmeldemonopolist bestimmen konnte, „wer welche Geräte zu welchem Preis ans Netz koppeln konnte“. Ein Nischendasein führten die selbst verwalteten „Mailbox-Netzwerke“ der Computer-Subkultur. Dazu zählten Organisationen wie der Chaos Computer Club, das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung FiFF oder Digitalcourage, die 1987 als Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs, kurz: FoeBud, gegründet wurde. Alle wollten sie „Computer emanzipatorisch nutzen – in Abgrenzung zu sicherheitspolitischen und kommerziellen Zwecken“.
In den 1990er Jahren entwickelte sich die Vision einer „Informationsgesellschaft“. Die öffentliche Dienstleistung Telekommunikation wurde liberalisiert und privatisiert, IT inklusive Internet zum Industriezweig und Produktionsfaktor der Zukunft. Dass „Multimedia“ 1995 zum Wort des Jahres avancierte, veranschaulicht die Entgrenzung medienpolitischer Kategorien, die der Staat noch durch gesetzliche Regulierung einfangen wollte. Ein Gesetz zur Einordnung des Internets führte 1997 nach einem Bund-Länder-Streit zu seiner Spaltung in Teledienste (Email) und Mediendienste (Rundfunkähnliche). Kritik an dieser staatlichen Regulierung kam nicht nur aus den Reihen der Computer-Subkultur, sondern auch von ersten Netzpolitiker_innen und Internetverbänden. Sie meinten, das Netz ließe sich durch seine Nutzer_innen selbst mittels Netiquette regulieren und wollten das Internet als „freien Kommunikationsraum und offene Infrastruktur jenseits des staatlichen Zugriffs“ schützen.
Von „Netzpolitik“ und Menschenrechten zur „Industrie 4.0“
Nach der Jahrtausendwende wurde „Netzpolitik“ zum relevanten Thema in Parteien und Medien, da man sie nun im Zusammenhang mit Bürger- und Menschenrechten diskutierte. Diese Rechte galten auch den Menschen als schützenswertes Gut, die sich nicht fürs Internet interessierten. Das zeigte sich etwa bei Themen wie die Gefährdung der Meinungsfreiheit im offenen Internet durch Zensur, die „erfolgreich mit einer Nutzer-Rhetorik aufgeladen worden“ seien, so Pohle. Als Beispiel nannte sie die „Zensursula-Debatte“ um das Zugangserschwerungsgesetz gegen Kinderpornografie, das Ursula von der Leyen 2009 als Familienministerin auf den Weg brachte, um einschlägige Webseiten sperren zu lassen. Die strafrechtliche Verfolgung von Kinderpornografie sei damals erfolgreich als ein Problem der Netzfreiheit gedeutet worden, konstatierte Pohle. Netzaktivist_innen setzten ihre Forderung „Löschen statt Sperren“ durch, denn sie waren inzwischen im Politik-Mainstream angekommen. 2006 hatte sich die Piratenpartei gegründet, die versuchte, das Thema Internet auf andere Politikfelder zu übertragen, wie es einst den Grünen mit dem Umweltthema gelang.
Doch sie scheiterten und ab 2010 dominierten wieder ökonomische Interessen die politischen Diskussionen unter dem Begriff „Industrie 4.0“. Aus Sorge um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschlands galt es, IT-Start-Ups und Wirtschaftswachstum zu befördern. Die Vision von einem „offenen Netz“ als Kommunikationsraum verblasste, so Pohle, und spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowdon verschwinde auch der Glaube, dass man das Internet schützen kann. Das Thema Datenschutz und damit verbunden die digitale Selbstbestimmung dominiere die Debatte und befeuere die Suche nach einem Gegenentwurf zum Plattformkapitalismus, nach einer ans Allgemeinwohl gekoppelten Vision.
„Wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Tendenzen“ entgegensteuern
Dabei setzt Pohle auf aktive Datenpolitik in Deutschland. Die Regierung dürfe das neue Politikfeld der Digitalisierung nicht mehr den Prioritäten anderer Ministerien unterordnen, sondern müsse es mit eigenen Regulierungskompetenzen ausstatten, plädiert sie im Online-Magazin regierungsforschung.de. Nicht-staatliche Interessengruppen sollten in Diskussionen und Entscheidungsfindungsprozesse eingebunden werden, um die „starken wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Tendenzen in der aktuellen Digitalpolitik“ zu hinterfragen und ihnen entgegenzusteuern. Digitalpolitik sei wegen der zunehmenden weltweiten Vernetzung und wegen des Internets als globaler Infrastruktur kein nationales, sondern ein globales Politikfeld, das Auswirkungen auf alle gesellschaftlichen Bereiche habe. Man dürfe die Gestaltung der Digitalisierung nicht weiterhin anderen überlassen.