Weiße Flecken im Journalismus

Vernachlässigte Themen über Menschen ohne Lobby

Über manche Themen wird nicht berichtet – obwohl sie viele Menschen betreffen. Die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) stellt die TOP10 der vernachlässigten Themen aus dem Jahr 2009 vor.

Im Krankenhaus haben gerade sie es besonders schlecht: Schwer pflegebedürftige Menschen, die im Alltag die Hilfe einer Pflegekraft brauchen. Betroffen sind eine halbe Million Deutsche, Tendenz steigend. Kommen sie ins Krankenhaus, müssen fast alle von ihnen auf diese Hilfe verzichten. Denn die Pflegeversicherung zahlt dann nicht mehr für ihre Pflegekraft, angeblich ist eine ausreichende Versorgung in der Klinik gesichert. Leider sieht die Realität anders aus: Schon für die normalen Aufgaben hat das Pflegepersonal zu wenig Zeit. Menschen, die nicht selbst essen können oder auf die Klink-Hektik psychisch auffällig reagieren, sind dort schlicht zuviel. Die Folgen: Massiver Einsatz von ruhig stellenden Medikamenten, zu schnell abgeräumte Mahlzeiten. Ein 2009 erlassenes Gesetz löst dieses Problem lediglich für rund 500 Betroffene: Diejenigen, die ihre Pflegekraft selbst angestellt haben anstatt die Pflegeversicherung zu nutzen. „Das Gesetz ignoriert ganz offenkundig die riesige Mehrheit der Betroffenen“, sagt Journalistik-Professor Horst Pöttker, Geschäftsführer INA an der TU Dortmund. „Da stand offenbar der Spargedanke im Vordergrund.“ Dennoch haben die Medien nicht über das Thema berichtet. Für die INA ist es deshalb TOP1 der vernachlässigten Themen aus dem Jahr 2009.
„Ohne Öffentlichkeit kann auch kein politischer Druck ausgeübt werden“, sagt Pöttker. Vorgeschlagen hat das Thema eine Frau, die Betroffene kennt. Rund 120 solcher Vorschläge von Medienschaffenden, Wissenschaftlern, NGOs und Einzelpersonen haben Journalistik-Studierende im vergangenen Jahr recherchiert und in Mediendatenbanken auf Vernachlässigung geprüft. Über die Recherche-Ergebnisse diskutierte am 30. Januar eine elfköpfige Jury aus Wissenschaftlern und Journalisten. Zum dreizehnten Mal stellt die INA damit eine TOP 10 der vernachlässigten Themen eines Jahres auf – um Relevantes doch noch ans Licht zu bringen.

Auch auf Platz 2 wählte die Jury ein gesundheitspolitisches Thema: „Psychiatrie: Bundesregierung biegt UN-Konvention zurecht.“ „Die Auswirkungen betreffen erneut Menschen ohne große Lobby“, sagt Horst Pöttker und vermutet hier einen der Gründe für das Schweigen der Medien. „Psychisch Kranke sind für Journalisten erstmal unglaubwürdiger als eloquente Politiker.“ Letztere haben bei beiden Themen gute Gründe, die Öffentlichkeit zu meiden. Mit einem eingefügten Wort hebelt die Bundesrepublik die für sie rechtsverbindliche UN Behindertenrechtskonvention aus, nach der in einigen Bundesländern deutlich vorsichtiger als bisher mit Zwangseinweisungen in die Psychiatrie umgegangen werden muss. Statt: „Eine Freiheitsentziehung aufgrund einer Behinderung ist auf keinen Fall gerechtfertigt“ heißt es in Deutschland: „Eine Freiheitsentziehung allein aufgrund einer Behinderung ist auf keinen Fall gerechtfertigt.“
Zu solchen Themen werden keine Pressekonferenzen veranstaltet. „Leider orientieren sich Journalisten aber lieber an Ereignissen – auch wenn sie inszeniert sind – als an aufwändig zu recherchierenden Zuständen“, sagt Pöttker.
Das zeigt sich auch an dem dritten TOP-Thema: „Kriegsberichterstattung lenkt von zivilen Friedensstrategien ab“. Die sind nämlich unblutig und dauern viele Jahre. Das macht sie für die Berichterstattung unattraktiv – obwohl sie zum Frieden beitragen können. „Es gehen auch Themen unter, die Probleme mit Anzeigenkunden oder wichtigen Quellen bedeuten können“, sagt der Journalismusforscher.
Wie TOP 4: rechtswidrige Polizeigewalt. Am ökonomischen Druck kann die INA nichts ändern. „Unsere Liste soll ein Anstoß sein, sich diesen wichtigen Themen trotzdem zu widmen.“
TOP 5–10: Lücken bei der Finanzaufsicht der Kirchen, Mangelhafte Deklaration von Jodzusatz in Lebensmitteln, Patente auf menschliche Gene und Gensequenzen, Schulen für Gehörlose unterrichten keine Gebärdensprache, Mangelnde Kontrolle deutscher Rüstungsexporte, Sondermüll beim Bauen und Sanieren.

Miriam Bunjes, freie Journalistin. Sie leitet das Rechercheseminar der INA und ist zudem Mitglied der Jury

Infobox
Ausführliche Infos

Bei http://www.nachrichtenaufklaerung.de/ gibt es ausführliche Informationen zu allen Themen.

nach oben

Weitere aktuelle Beiträge

Österreich: Gefahr für die Pressefreiheit

In Österreich ist die extrem rechte FPÖ bei den Nationalratswahlen stärkste Kraft geworden. Noch ist keine zukünftige Koalition etabliert. Luis Paulitsch erklärt im Interview, welche Entwicklungen in der österreichischen Medienlandschaft zu erwarten sind, sollten die FPÖ und ihr Spitzenkandidat Herbert Kickl an der Regierung beteiligt werden. Paulitsch ist Jurist, Zeithistoriker und Medienethiker. Von 2019 bis 2024 war er Referent des Österreichischen Presserats, dem Selbstkontrollorgan der österreichischen Printmedien;  seit 2024 bei der Datum Stiftung für Journalismus und Demokratie.
mehr »

KI beinflusst Vielfalt in den Medien

Künstliche Intelligenz kann journalistische Texte in verschiedene Sprachen übersetzen und damit viel mehr Nutzer*innen ansprechen. Gleichzeitig kann sie aber auch Stereotype, die in diesen Texten enthalten sind, verfestigen. Gefahren und Chancen von KI-Anwendungen im Journalismus standen im Fokus der diesjährigen NxMedienkonferenz der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM), die sich für mehr Vielfalt in den Medien einsetzen.
mehr »

ARD & ZDF legen Verfassungsbeschwerde ein

Nachdem die Ministerpräsident*innen auf ihrer Jahreskonferenz Ende Oktober keinen Beschluss zur Anpassung des Rundfunkbeitrags ab 2025 fassten, haben heute ARD und ZDF Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingelegt. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di begrüßt die Initiative.
mehr »

AfD als Social Media Partei überschätzt

Eng vernetzt mit dem extrem- und neurechten Vorfeld und gezielt provozierend mit rassistischem Content: Die Landtagswahlkämpfe der AfD in Sachsen, Thüringen und Brandenburg waren von einer hohen Mobilisierung geprägt, auch über die sozialen Medien. Eine aktuelle Studie der Otto Brenner Stiftung (OBS) in Frankfurt am Main zeigt nun aber: die Auftritte der AfD auf Social Media sind weit weniger professionell als zuletzt häufig kolportiert und es gibt deutliche regionale Unterschiede.
mehr »