Kein Gegenhalten mehr

Die Frankfurter Rundschau musste nicht, sie hat sich verändern lassen

Die Medienwissenschaftlerin Brigitta Huhnke zum schleichenden Bedeutungsverlust der Frankfurter Rundschau (FR). Huhnke forscht und publiziert unter anderem darüber, wie durch Medien und Politik Themen strategisch gesetzt werden und unterrichtet an der Universität Klagenfurt unter anderem Recherche und Reportage.

M | Frau Huhnke, stellen Sie sich vor, Sie sollen einem unbedarften Menschen die Frankfurter Rundschau erklären. Wie tun Sie das?

BRIGITTA HUHNKE | Indem ich die FR kritisiere. Empfehlen kann ich sie nicht mehr. Seit Jahren vollzieht sich mit der FR ein unglaubliches Trauerspiel. Für die bundesrepublikanische Gesellschaft, unsere demo­kratische Kultur, aber auch für mein ­eigenes Leben war die FR über Jahrzehnte hinweg eine sehr wichtige Zeitung.

M | Inwiefern?

HUHNKE | Schon als Schülerin habe ich die FR gelesen, war bereits als junge Frau an das Blatt gebunden, erfuhr so umfassend, was in der Welt los war. Faszinierend war damals der FR-Auslandsteil, mit viel Hintergrund und Tiefe, auch über politische Bewegungen im fernen Süden. Ich habe die kompetenten Journalistinnen und Journalisten sehr bewundert. Dann die hervorragenden Dokumentationsseiten: eine Seite voll bepackt mit Informationen und Analysen. Die wichtigsten gesellschaftlichen Debatten fanden in diesem Blatt statt. Was ich auch noch in den achtziger und neunziger Jahren sehr geschätzt habe, war die wöchentliche Seite „Aus Schule und Hochschule“ sowie die Seite „Forum Humanwissenschaften“.
Oder schauen Sie sich die Medienseite an: die bestach bis vor wenigen Jahren ebenfalls durch kritische Analysen, mittlerweile ist sie zur Farce verkommen.

M | Wollen Sie zurück in die achtziger Jahre?

HUHNKE | Das ist die falsche Frage! Dringender als je zuvor bräuchten wir heute solche Themenseiten, gerade weil die gesellschaftlichen Verhältnisse sich vielen Menschen immer verworrener darstellen, die Neoliberalen mittlerweile die Deutungshoheit zu haben scheinen.
Auch die Seite „Frau und Gesellschaft“ wurde mit der aberwitzigen Begründung, Frauenthemen haben quer zu den Ressorts stattzufinden, abgeschafft. Die Debatten der Frauenbewegung fanden in der FR leider immer nur am Rande statt – umso wichtiger war diese Seite! Weib­liche Lebenswirklichkeiten zeugen noch immer vom asymmetrischsten Machtkonflikt überhaupt. Dieses Haupthindernis für eine wirkliche Demokratie tabuisieren deutsche Medien wieder völlig. In der FR sind Frauen und ihre Lebensrealitäten heute fast vollständig in die symbolische Nichtexistenz verwiesen.

M | Was kritisieren Sie genau?

HUHNKE | Wo ist die FR, die in recherchegesättigten Analysen und Reportagen sys­tematisch dokumentiert, wie sich die Zerschlagung von Vollzeitarbeitsplätzen in ­erster Linie auf dem Rücken von Frauen vollzieht? Der Neoliberalismus hat Frauen den bisher radikalsten Rückschritt nach 1945 beschert – neue Armut ist in erster Linie weiblich. Und schauen wir uns die weltweit agierende sexuelle Ausbeutungsindustrie an, wo wird das kritisch in der FR reflektiert? Dagegen ist der „Standard“ aus Wien fast vorbildlich zu nennen, mit seiner täglichen Internetseite „dieStandard“. Sich fortschrittlich oder auch nur seriös nennende Medien müssen Machtverhältnisse offen legen, Diskriminierungen von Minderheiten, Umweltzerstörungen und Profitgier permanent und penetrant anprangern.

M | Sie schrieben unlängst, auch die Recherchequalität vieler Artikel sei mittlerweile mehr als jämmerlich – warum?

HUHNKE | Nun, jene Story, die ich auch mit Studierenden ausführlich analysiert habe, gerät schon in der Überschrift im Ton neckisch: „‘Coffee to go’ – Die Frau fürs schnelle Leben“. Aber genau das scheint mittlerweile auch typisch für die FR zu sein: PR-Geschichtchen statt harter journalistischer Recherche. Alle sogenannten Fakten stammen ausschließlich aus Perspektive der Betreiberin der Kaffeehauskette. Wir lesen nichts über Zusammenhänge, beispielsweise über die Situation der Beschäftigten in Filialen dieser und anderer Handelsketten, erfahren nichts über die Sicht der Gewerkschaft zur dramatischen Zunahme von unsicheren Arbeitsplätzen im Handel allgemein. Und leider erfahren wir auch nichts darüber, wie weltweit in den Städten regionale Konsum-Kulturen durch solche Ketten regelrecht zerstört werden. In New York beispielsweise schließen sich immer mehr Menschen in ihrem Unmut über die Zurichtung ihrer Nachbarschaften durch ­Ketten wie Starbucks zusammen. Kaum erträglich ist auch der Duktus des FR-Artikels über die deutsche Kaffeekette: Ein Sprachklischee reiht sich ans andere, oft in unlogische Satzkonstruktionen eingebettet. Das erinnert an die Kunst des Trivialen der Bildzeitung – so funktioniert Manipulation. Immer häufiger finde ich in der FR Beispiele für diese entleerte Sprache des Neoliberalismus. Ganz besonders in der Po­litikberichterstattung fliegen mir als Leserin zunehmend Worthülsen um die Ohren.

M | Sind Sie nicht zu streng, sind dies nicht lediglich einzelne Ausrutscher?

HUHNKE | Leider nicht, jeden Tag ließen sich Beispiele finden. Unlängst zitierte die FR in einem Beitrag über die Bertelsmann-Stiftung einen Professor, der behauptet, Politikberatung spiele dort eine „untergeordnete Rolle“ und die Stiftung werde „in der Öffentlichkeit überschätzt“. Mittlerweile liegen genügend Analysen über diese neoliberale „Denkfabrik“ vor – ihr Einfluss auf Politik, Medien und Wissenschaft ist dokumentiert. Darauf hätte die Autorin zurückgreifen können und notfalls mit eigenen Recherchen und Fakten dann entkräften müssen.
Oder schauen Sie sich an, was an den Hochschulen besonders in den Geistes- und Sozialwissenschaften passiert, – auch dank Unterstützung durch die Bertelsmannstiftung: die flächendeckende Zerschlagung zugunsten der wahnhaften Annahme, auch Studienfächer „marktfähig“ machen zu können. Hätten wir noch die alte FR-Seite „Aus Schule und Hochschule“, hätten wir noch einen öffentlichen Raum, wo wir diesen Verfall von Bildung und Wissen, die Folgen von „Bachelor“ und „Master“ – dieser albernen „Jung­gesellen-“ und „Meister“-Mc-Studiengänge – diskutieren könnten.

M | Um eine gute Zeitung zu machen, brauchen Zeitungsmenschen Raum und Zeit, um zu recherchieren. Doch die Redaktionen sind ausgedünnt und die Kolleginnen und Kollegen stöhnen ob der Arbeitsüberlastung.

HUHNKE | Ich kenne die Argumentation: ‚Wo Anzeigen und Abonnements fehlen, muss der Gürtel enger geschnallt werden’. Aber das enthebt doch nicht den einzelnen Kollegen, die einzelne Kollegin der ethi­schen Verantwortung. In der alten Bundes­republik hatten wir noch Verleger mit einem gewissen gesellschaftlichen Engagement, die sich auch um das demokratische Gemeinwesen verdient machen wollten. Heute haben Mana­ger weltweit agierender Medienkonzerne das Sagen, mit immer größeren Renditevorgaben. Wenn immer weniger Menschen an der Herstellung der Zei­tung beteiligt sind, erhöht sich der Profit. Das Modell FR hat über Jahrzehnte hin­weg gut funktioniert: Im Eigentum einer Stiftung, dem Gemeinwohl verpflichtet.

M | Die FR war Anfang des Jahrzehnts von der Zeitungskrise besonders hart betroffen – hätten Sie einen Rat gehabt?

HUHNKE | Ich bin keine Ratgeberin, sondern Wissenschaftlerin. Verleger müssen auf eine Krise kreativ und journalistisch reagieren. Wurden alle Register gezogen, die in einem solchen Fall zu ziehen sind? Ich bezweifele das. Ein Sündenfall war mit Bestimmtheit schon der Verkauf der FR an die SPD-Medienholding. Ich bin gespannt, was dem Blatt jetzt mit dem neuen Verlag M. DuMont Schauberg passiert.

M | Ist die Veränderung der FR nicht auch Ausdruck der sich stetig veränderten Mediennutzung?

HUHNKE | In meinen Augen steht die FR exemplarisch für das, was gegenwärtig im Journalismus insgesamt passiert. Auch einst kritische Printmedien lassen sich immer stärker die Themen und deren Auf­bereitung durch Akteurinnen und Akteure aus Politik und Wirtschaft aufdrücken. Schauen Sie sich an einem x-beliebigen Tag die Themen der überregionalen Blätter an. Vieles wird einfach nur nachgeschrieben. Immer weniger wird eigenständig recherchiert, immer seltener werden aktiv Themen gesetzt. Wo haben wir noch eigenständige journalistische Profile? Mit Aufkommen des kommerziellen Fernsehens und „Dudelradios“ hat sich leider nicht nur der öffentlich-rechtliche Rundfunk verändert, sondern auch Zeitungen haben sich in Abgründe intellektuellen Verfalls verführen lassen. Zunächst war die FR eine der wenigen Zeitungen, die dagegen gehalten haben. Doch schließlich hat auch die FR der immer stärker um sich greifenden, aber von Menschen gemachten gesellschaftlichen Indifferenz nicht mehr standhalten wollen und ist wie andere den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Diese Indifferenz wird uns dann auch noch als „modern“ verkauft, als quasi naturhaft „im Zeitalter der Globalisierung“. Anfang der neunziger Jahre wurden wir mit dem Popanz vom „Ende der Geschichte“ wirr gemacht. Damals hat die FR noch tapfer Einspruch erhoben. Aber schon das Konstrukt von der „Bürgergesellschaft“, als Euphemismus für die nach wie vor bestehende Klassengesellschaft, wurde nicht mehr als neoliberale Steuerung erkannt. Ähnliches passierte mit der „Zivilgesellschaft“. Bereits im Begriff steckt die Anmaßung des Westens: Sind andere Gesellschaften „unzivil“?

M | Sie beschreiben eine Entwicklung, die mit dem Bedeutungszuwachs des Internets einhergeht …

HUHNKE | … und damit wird viel begründet! Das Netz spielt in der politischen Kommunikation keine so große Rolle, wie uns versucht wird einzureden. Gerade weil das Internet so unübersichtlich ist, brauchen wir dringender denn je die strukturierende Hand „traditioneller“ Medien. Diese müssten heute fast eine pädagogische Aufgabe wahrnehmen, Fakten und Ereignisse in den jeweiligen Kontexten seriös deuten. Auch die FR verbreitet kaum noch Vorstellungen über eine anzustrebende wirkliche Demokratie, die unabdingbar auf sozialer Gerechtigkeit beruhen muss. Stattdessen arbeitet sich auch die FR an Brocken ab, die ihr die neoliberalen Regierungen, Bertelsmannstiftung und Un­ternehmerverbände vor die Füße werfen: „Reform“, „demographischer Wandel“, „Chancengerechtigkeit“, „Eigenverantwortung“ und auch die FR-Redaktion ließ und lässt sich jahrelang das „Jahrhundertwerk Agenda 2010“ aufschwatzen.

M | Werfen Sie damit der Redaktion vor, unreflektiert zu sein?

HUHNKE |
 Genau das. Die Wiege des Journalismus liegt in dem kollektiven Willen, den Herrschenden auf die Finger zu klopfen. Und das Faszinierende am Journalismus sollte doch immer noch sein, anhand konkreter Handlungen von Menschen komplexe Zusammenhänge in Form gut recherchierter Geschichten zu erzählen. Lesen Sie die Sozialreportagen von Max Winter aus dem Wien um 1900 und vergleichen Sie die mit dem eitlen Geplapper heutiger „Edelfedern“. Letztere würden natürlich niemals in die Unterwelten von Köln, Hamburg oder Berlin hinabsteigen, um vom Elend sozialer und kultureller Zerstörung zu zeugen. Sie ziehen es vor, in Schlips und Kragen, die hohlen Worte von Politikakteuren zu empfangen, verbreiten diese unhinterfragt, um sie – wie es Homi Bhabha allgemein für die Erzeugung von Stereotypen und Ressentiments ausdrückt – dann in „dämonischer Wiederholung“ wahr werden zu lassen. Heute zählen Auflage, fragwürdig erhobene Quoten. Dafür werden Leserinnen und Leser einfach als debil konstruiert, die angeblich nur noch Leichtes und davon immer mehr konsumieren wollen. Ganz ähnlich fixen Dealer ihre Kundschaft an. Bei einer solchen Menschenverachtung bleibt der Journalismus als seriöses Handwerk völlig auf der Strecke.

M | Die FR gibt es nun im Tabloid-Format. Wie finden Sie das?

HUHNKE |
 Schrecklich! Dafür musste wieder ein imaginäres Leseverhalten herhalten. Doch die FR-Redaktion hatte nicht den Mut, sich gegen die Vorgaben des neuen Eigentümers, den Kölner Zeitungskonzern M. DuMont Schauberg, zu wehren. Die FR hat so wahrscheinlich kaum eine Zukunft. Wir aber, besonders auch die jungen Menschen, brauchen gerade jetzt inmitten neoliberaler Zerstörungs­orgien wieder gute Zeitungen, mit Fakten und ausführlichen Analysen, die den Menschen dabei helfen, die eigene und die fremde, die gesellschaftliche Wirklichkeit erkennen und in ihr handeln zu können. Das Grundsätzliche, das, was Jour­nalismus in einer Demokratie bedeuten sollte, das ist verloren gegangen – nicht nur bei der Frankfurter Rundschau.
  

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