Vorgeschobene Persönlichkeitsrechte als Medienblockade
Die aktuelle Rechtsprechung in Sachen Pressefreiheit betreibt nicht selten Haarspalterei – und erschwert journalistische Tugenden wie Respektlosigkeit, Vielschichtigkeit und sogar das Prinzip Aufklärung. Die Demokratie des freien Wortes scheint auf der Strecke zu bleiben.
Früher war alles so einfach. Für brisante Reportagen galt dasselbe wie für pikante Sandwiches: Waren sie gut belegt, konnte es keine größeren Probleme geben. Doch heute, so klagen Redakteure vom Spiegel bis zur Süddeutschen Zeitung, vom NDR bis zum SWR, von der linken taz bis zur konservativen Welt, gibt es kaum noch Sicherheiten. Denn immer häufiger schützen Gerichte, oft im Eilverfahren, Persönlichkeitsrechte vor der Freiheit kritischer Berichterstattung – trotz oder gerade wegen des öffentlichen Interesses daran. Thomas Leif vom netzwerk recherche diagnostiziert denn auch „vorgeschobene Persönlichkeitsrechte“ an allen Ecken und Enden – und der Deutsche Presserat attestiert Redaktionen und Rechtsabteilungen eine „zunehmende Verunsicherung“. Die Folge: Unbequeme, aber wichtige journalistische Tugenden – wie facettenreiche Anspielungen und vielschichtige Mehrdeutigkeit, ätzende Investigation und treffende Respektlosigkeit, ja das Prinzip Aufklärung selbst – scheinen aus dem akzeptierten Katalog publizistischer Könnerschaft zunehmend herauszufallen.
Was ist passiert? Stimmt es, dass die „Verrohung der Medien, insbesondere des Boulevards“, die der Medienrechtsexperte Christian Schertz vehement beklagt, der Grund ist? Haben wir uns die Suppe selbst eingebrockt? Zumal Verlage auf der Jagd nach Sensationen und Privatsender im Quotendruck kaum eine Dummheit auslassen? Muss deshalb von höchster irdischer Stelle rechtswirksam eingegriffen werden? – Aber trifft das Schalten und Walten der Medienrichter überhaupt jene, die leichtfertig irgendwelchen Unsinn in die Welt setzen? Oder trifft es nicht vielmehr auch solche unter uns Reportern, die nach bestem Wissen und Gewissen recherchieren und formulieren?
Diesen Eindruck gewinnt, wer den Zwist um das im Frankfurter Campus Verlag erschienene Buch „Tatort Autobahn – Kriminelle Machenschaften im Speditionswesen“ untersucht. Der ZDF-Reporter Uli Röhm schrieb es zusammen mit dem ehemaligen Spiegel-Korrespondenten Wilfried Voigt. Beide sind keine unerfahrenen Jungspunde, sondern erprobte Macher. Ihr Buch ist kein reißerischer Krimi, sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme. Dennoch wurden Röhm und sein Buchverlag sowie der Verlag der Frankfurter Rundschau und ihr Wirtschaftsredakteur Werner Balsen – der das Buch ankündigte und rezensierte – Opfer von Verfügungen. Beantragt von einem Bonner Beamten, verhängt vom Hamburger Landgericht mit seinem gefürchteten Medienrichter Andreas Buske.
Verdachtsäußerung untersagt
Der Streit gilt in weiten Teilen einem Zitat Röhms, das Balsen in Druck gab. Nun gilt die Technik des Zitierens als Indiz für subjektive Wertung des Zitierten sowie als Beleg für authentische Widergabe durch den Zitierenden. Früher bot sie daher selbst für „Beleidigungen“ meist Straffreiheit. So riskierte der Spiegel 1996 eine kesse Überschrift mit „Tütelchen“: „‘Da kommt Horst, der Henker’“ – bezogen auf den Gesundheitspolitiker Horst Seehofer. Bei Röhm geht es indes nicht um Titulierung. Sondern um einen Verdacht: Demnach war ein hoher Beamter im Bonner Verkehrsministerium bestechlich. Tatsächlich gibt es einen schriftlichen Beleg, laut dem sich der Betreffende illoyal seinem damaligen Minister gegenüber verhielt: Einer E-Mail nach soll er Geschäftsleuten geraten haben, wie sein oberster Dienstherr unter Druck zu setzen sei. Ob aus Gier, Not, Hass oder Liebe oder auch ohne Motiv bleibt unklar – der Verdacht der Korruption liegt allerdings am nächsten. Doch der Beamte setzte sich in erster Instanz durch, mit hohem juristischem Aufwand: Das Gericht untersagte die Verdachtsäußerung, er habe für sein illoyales Tun eine Gegenleistung erhalten.
Solche Erfolge von Juristenakrobatik waren früher selten. Erst seit dem „Stolpe“-Entscheid des Bundesverfassungsgerichts Ende 2005, welcher untersagt, den Politiker Manfred Stolpe einen Stasi-IM zu nennen, verlangen die Gerichte immer öfter, dass alle Deutungen einer Äußerung wahr und belegt sein sollen. Süffisante Anspielungen werden als plumpe Suggestion ausgelegt. Mehrdeutigkeit, im kulturellen Sinn wertvoll, ist gleich ganz in Gefahr. Schließlich dräuen Über- und Falschinterpretationen. Und auch der feine Unterschied zwischen Spekulation und Tatsachenbehauptung geht zu Bruch. So auch im Fall Uli Röhm: Obwohl er seinen Verdacht mit den Worten, anderes sei „schwer vorstellbar“ als Vermutung kennzeichnete, traf ihn der Bannstrahl des Verbots. Man kann überlegen, ob die subjektive Ich-Form („ich vermute…“) ihn geschützt hätte. Oder die Verpackung mit Satire und Konjunktiv: „Böse Zungen könnten behaupten…“. Nur: Auch hier greift notfalls das Persönlichkeitsrecht. Und: Subjektive Empfindung und Humor können einen Autoren zwar schützen. Der Anspruch auf Wahrheitsfindung aber geht dann mitunter flöten.
Mit dem treten Reporter jedoch an. Auch Röhm. Die Beanstandung von zwei Formulierungen in seinem Buch, die dann auf richterlichen Beschluss ausgemerzt wurden, wirkt denn auch absurd, zumal ihr Stellenwert im Gesamtgefüge des Buches winzig ist. So soll wohl mit kleinen Stolpersteinen eine Lawine aufgehalten werden. Denn während es im „Tatort“ um skrupellosen Betrug geht, um systematische Rechtsverstöße, um schwere Kriminalität – einige Protagonisten wurden verhaftet –, streitet der klagende Beamte um zwei Petitessen. So sei er zwar für das Kontingent bestimmter Lizenzen mit verantwortlich, aber nicht „zuständig“ für diese. Eine Haarspalterei, für Nichtbeamte kaum nachvollziehbar. Dass gegen den Mann ein „internes Ermittlungsverfahren“ laufe, wollte er auch nicht gedruckt sehen – vielmehr sei eine Behördenabteilung namens „Innere Prüfung“ mit solchen Sachen beschäftigt, so der dazugehörige Pressesprecher.
Man fragt sich, ob wir eine Beamtendiktatur haben. Denn jeder behördliche Vorgang, der sich auf das Innere der Behörde bezieht, ist ein „interner“ Vorgang. Mit „Ermittlungsverfahren“ wählte Röhm einen immerhin verständlichen Oberbegriff. Schließlich klingt „Innere Prüfung“ für Laien irreführend und unbestimmt, gar nach internistischer Untersuchung. Vor allem aber ist jede Überprüfung, ob amtlich oder medizinisch, intern oder extern, zugleich ein Vorgang, eine Ermittlung, ein Prozedere, ein Verfahren – und in diesem Sinn ein Ermittlungsverfahren. Wer in heller Panik ein Disziplinarverfahren oder gar polizeiliches Vorgehen assoziiert, hat wohl Angstfantasien – so wie der Beamte, der damit aber erstmal durchkam.
Deutliche Worte benutzt
Denn nach aktueller Rechtsprechung sind solche Imaginationen „nicht weit entfernte“ Ausdeutungen. Sprache schnurrt somit auf die Plakativität von Piktogrammen zusammen – die Gerichte scheinen mitunter zu vergessen, dass ihr Amtsdeutsch nicht der einzige erlaubte Kommunikationscode ist. Röhm tat derweil nur seine Pflicht als Reporter, benutzte deutliche Worte statt verschwurbeltes Bürochinesisch. Nur: Juristen wollen immer öfter bestimmen, wie Medien zu formulieren hätten. Juristenstil statt Journalistenslang – das geht zu Lasten der Wort- wie der Wahrheitsfindung, zu der eben nicht nur Gerichte, sondern auch die Vertreter der vierten Macht, der Medien, aufbrechen. Ihr vornehmstes Instrument: Sprache. Im Fall Röhm gibt es denn auch einen auf Sprache basierenden Trost: Die Verfügungen beeinträchtigen weder Lesefluss noch Aussagekraft des Bandes. Nur vier Zeilen musste der Campus Verlag überkleben. Aber: Der vorübergehende Auslieferungsstopp verhinderte die Marktpositionierung des Buches. Das zeigt, wie leicht auch aberwitzigste Verfügungen die Verbreitung aufklärerischen Gedankenguts behindern können. Womöglich wäre Röhms Buch sonst ein Bestseller geworden.
Und immer dubioser wird beanstandet und eingeschüchtert: Manchmal reicht es, wenn ein Anwalt schaumschlägerisch und entgegen der Beweislage behauptet, sein Mandant werde zu Unrecht geschädigt – schon knicken Redakteure und Verlagsjustiziare ein. Die Solidarität mit kritischen Autoren lässt oft zu wünschen übrig: So berichten Kollegen, es gehöre mancherorts bereits zum guten Ton, Ärger unbedingt zu vermeiden. Sonst werde der Autor zum Sündenbock gemacht. Verlage und Sender gehen ebenfalls nicht selten den Weg des geringsten Widerstands: Sie opfern dann stillschweigend ein Stück Demokratie, betreiben selbst den Abbau der Pressefreiheit. Die deutsche Pressewelt gerät so zunehmend aus den Fugen. Fair is foul and foul is fair – willkommen in einer real gewordenen Welt der Heuchelei und falschen Rücksicht.
Richtig gute Nachrichten kommen hingegen aus Bayern. Dort hängt man die Freiheit offenbar hoch: Beim Landgericht München I gewann der ver.di-nahe Verleger Manfred Plinke (Autorenhaus Verlag) mit Urteil vom 8. August 2006 (AZ: 33 O 20378/05) gegen einen skurrilen Verein, dessen Name bereits ein Imitat ist: Der Bund deutscher Schriftsteller, nicht zu verwechseln mit dem seriösen Verband deutscher Schriftsteller, wollte Plinke, der Fachbücher zur Selbsthilfe für Autoren herausbringt, Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht anhängen. Offenkundig zum Vorteil konkurrierender Verlage, die Plinkes Nische gern übernommen hätten. Aber sogar die flotten Wortspiele, die sich Plinke zu seinen Gegnern einfielen ließ, wurden ihm gerichtlich genehmigt – und als „intelligent“ gewürdigt. Keine Chance den Vorgeblichen, hieß hier die richterliche Devise.
Und sogar in Hamburg bei Andreas Buske ist manchmal die Freiheit des Wortes Trumpf. So freut sich Rechtsanwalt Michael Fricke von der Hamburger Kanzlei CMS Hasche Sigle: Für den NDR und den HR erfocht er einen Sieg über die Firma Neosino, die behauptete, ihre Nahrungsergänzungsmittel enthielten nanometerkleine Partikel von Mineralien. Das NDR-Fernsehmagazin „Panorama“ gab jedoch beim Potsdamer Max-Planck-Institut eine Untersuchung in Auftrag – die ergab, es seien keine Nanomineralien drin. Trotzdem hatte Neosino zunächst zwei Verfügungen gegen die Fleißarbeiter vom Fernsehen erwirkt. Diese wie auch eine Gegendarstellungsverfügung wurden vom Hamburger Landgericht im Juli aufgehoben.
Zunahme an Gerichtsverfahren
Es bleibt: Ein Nachgeschmack. Denn monatelanger Kampf war nötig, nur um ein bisschen Wahrheit, ein simples Laborergebnis veröffentlichen zu dürfen. Die Zunahme entsprechender Verfahren ist aber amtlich, gerade im Bereich Produktkritik und firmeneigener Persönlichkeitsrechte – die Industrie macht Druck. Zum Vergleich: Das Hamburger Landgericht handelte 2001 insgesamt 845 Mediensachen ab. Dieses Jahr werden es wohl weit über 1 000 sein. Nicht mitgerechnet sind jene Streits, bei denen man sich vorgerichtlich gegen die Pressefreiheit entschied. Bundesweit mag das zigtausend Mal der Fall gewesen sein. Heribert Prantl, Leitartikler der Süddeutschen Zeitung und vormals Staatsanwalt, scheut sich jedenfalls nicht, unserer Demokratie eine indirekte Bankrotterklärung auszustellen: „Wenn es die jetzige Rechtsauslegung schon vor dreißig Jahren gegeben hätte, so hätten sich verbrecherische Altnazis auf ihre Persönlichkeitsrechte berufen und so eine wahrheitsgemäße Berichterstattung verhindern können.“