Braucht der Journalismus eine Verhaltenstherapie?

„Wie viel Medienschelte verträgt die Pressefreiheit?“ war die Frage von dju in ver.di, DJV, den beiden Verlegerverbänden und „Reporter ohne Grenzen“ zum Tag der Pressefreiheit in der Landesvertretung von Sachsen-Anhalt in Berlin. Die richtige Frage? Oder leben Journalisten „an einer Klagemauer“, so der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen am Ende der Diskussion.

„Medienkritik hat es immer gegeben“, erklärte Dagmar Engel, Chefredakteurin des Hauptstadtstudios der Deutschen Welle und Moderatorin der Diskussion, „aber etwas hat sich in den letzten Monaten verändert“. Nach Ansicht von Pörksen gibt es eine „handfeste Beziehungskrise mit allen Merkmalen eines Scheidungskriegs“ zwischen Journalisten und Mediennutzern. Die Welt der Medien habe sich in zwei Teile gespalten: eine massenmediale Mediendemokratie und eine digitale Empörungsdemokratie, erklärte Pörksen in seinem Impulsreferat. Es gebe keine klar identifizierbaren Machtzentren der Öffentlichkeit mehr, seit jeder zum Sender werden könne: „Die Medienverdrossenen haben nun ihre eigenen Kanäle.“ Journalisten müssten daher ihre Arbeitsweise transparenter machen, sie den Nutzern erklären. Denn neben sie als „Vierte Gewalt“ sei damit eine neue „Fünfte Gewalt“ getreten, die den Dialog einfordere, der künftig Teil ihres Berufsbilds sei.

Stefan Niggemeier, Andrea Röpke, Dagmar Engel, Alice Bota und Bernhard Pörksen (v.l.n.r.) Foto: David Ausserhofer
Stefan Niggemeier, Andrea Röpke, Dagmar Engel, Alice Bota und Bernhard Pörksen (v.l.n.r.)
Foto: David Ausserhofer

Bedroht fühle sie sich nur in der Kriegssituation in der Ukraine, erklärte ZEIT-Reporterin Alice Bota, nicht von Lesern. Auf die „relativ maßvollen“ persönlichen Briefe und Mails antworte sie, auf anonyme Zuschriften und Kommentare reagiere sie nicht. Erfahrungen mit wahren Shitstorms hat dagegen die freie Journalistin Andrea Röpke, die seit Jahren über Rechtsradikale berichtet. Der Hass sei massiver geworden, auch bei „Pegida“-Demos und deren Ablegern, die inzwischen im Griff rechtsradikaler Strukturen seien. Das Vorgehen der Polizei gegen Journalisten habe allerdings auch zugenommen. Reporter würden zunehmend als Provokateure betrachtet.

Dass seine Medienkritik den „Empörten“ zusätzliche Munition liefere, gab Blogger und Journalist Stefan Niggemeier zu, äußerte aber dennoch sein Unbehagen über eine Berichterstattung zur Ukraine und zu Griechenland, in der offenbar alle Journalisten in die gleiche Richtung rennen und es nur eine dominierende Perspektive gebe. Bota warf Niggemeier vor, seine Kritik sei zu diffus und pauschal. Sein Vorwurf der einseitigen Berichterstattung unter Vermeidung missliebiger Aspekte in den Massenmedien halte einer Überprüfung nicht stand. Dennoch wurde auch aus dem Publikum geäußert, dass „alle Geschichten immer nur einen Dreh“ hätten.

Meiden Journalisten inzwischen Themen aus Angst vor einer massiven Gegenöffentlichkeit, warf Engel als Frage ein. Eine direkte Antwort bekam sie nicht, sondern die Forderung von Röpke, dass Journalisten wieder eine politische Haltung brauchten und sich mehr analysierend mit den Ereignissen auseinandersetzen müssten, sich beispielsweise nicht alle auf ein Dorf wie Tröglitz stürzen, sondern darstellen, dass es bereits seit 2011 eine „massive Mobentwicklung gegen Flüchtlingsheime“ gegeben habe. Sie sollten sich auch mit den gewalttätigen Angriffen auf sie selbst offensiver auseinandersetzen und diese in ihren Berichten nicht verschweigen. „Solidarität und Kampfbereitschaft“ forderte sie von den Kolleginnen und Kollegen.

Sollte man nicht eher „Denkgemeinschaften“, etwa in Redaktionen, aufbrechen für mehr Nuancenvielfalt in der Berichterstattung, lautete eine Forderung aus dem Publikum, mehr Medienbildung in der Schule für eine künftige Mediendiskussion auf einem höheren Niveau eine andere. Und quittierten Journalisten die Vorschläge der Mediennutzer zum Beispiel durch die Gründung eines „Publikumsrats“ nicht mit zu viel Arroganz?

Sie müssten sich an die Einmischung der Mediennutzer als „Fünfter Gewalt“ gewöhnen, mutmaßte Niggemeier: „Das wird nicht wieder verschwinden.“ Deshalb, und weil er sich zu viel mit seinem angeblichen Untergang beschäftige, brauche der deutsche Journalismus „eine Verhaltenstherapie“, resümierte Medienwissenschaftler Pörksen und empfahl den Journalisten, diese „Wutwellen“ zum Erkenntnisgewinn „als Interpreten und Hermeneuten der Wut“ zu nutzen. Der Dialog mit den Lesern

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