Geschichte eines Fotos

1.Mai 1987 in Kreuzberg - Kraftaktion der Berliner Polizei auf dem Berliner "Lauseplatz" Foto: Toni Nemes

 Ein „Umsturz“ der besonderen Art markierte 1987 den Beginn der Kreuzberger Mai-Krawalle – Toni Nemes war mit der Kamera dabei

25. Jahrestag der Krawalle in Berlin-Kreuzberg vom 1. Mai 1987. Das unsägliche Ritual der seither alljährlich zelebrierten Straßenschlachten zwischen Autonomen und der Polizei. Die tiefgründigen Analysen zum Thema. Alles schon wieder Schnee von gestern. Hier geht es nur um ein Foto von jenem freundlichen, warmen ersten Maitag vor einem Vierteljahrhundert.

Der Kontaktbogern Fotos: Toni Nemes
Der Kontaktbogen
Fotos: Toni Nemes

Die Umstände seiner Entstehung sind schnell erklärt: Beim traditionellen Straßenfest auf dem Kreuzberger Lausitzer Platz hatten bis heute Unbekannte einen Streifenwagen umgeworfen. Ich kam hinzu, als der Wagen unter dem aufmunternden Gejohle der Umstehenden von einem halben Dutzend Polizisten in Kampfanzügen recht unsanft wieder auf seine vier Räder befördert wurde. Das Kippen des VW-Busses ist später als Beginn der inzwischen legendären „Kreuzberger Maikrawalle“ eingeordnet worden.

Ohne Auftrag unterwegs

Ich versuchte zu dieser Zeit – nach Publizistikstudium und Dutzenden von gescheiterten Bewerbungen um ein Volontariat – Fuß im freien Journalismus zu fassen. Das Spandauer Volksblatt (SpaVo) als eine der kleinsten West-Berliner Tageszeitungen war damals dabei, sich als Volksblatt Berlin stärker in der Gesamt-Halbstadt zu etablieren. Dazu gehörte auch die Ausweitung der Lokalberichterstattung aus den Stadtbezirken jenseits von Spandau. Ich fungierte als Kreuzberg-„Korrespondent“. Für 45 Pfennige die Zeile und 30 Mark fürs erste, 20 Mark für weitere Fotos zu einem Beitrag. Und – wie eine Handvoll anderer beim SpaVo – genährt von der Hoffnung, doch noch irgendwann ein Volontariat zu ergattern.
Auf dem „Lauseplatz“-Fest war ich an jenem 1. Mai ohne Auftrag unterwegs, sozusagen privat, als Kreuzberger in meinem Kiez. Die Kamera hatte ich natürlich trotzdem dabei. Als ich die Szene mit den starken Männern im Kasten hatte, war klar, dass die Fotos ganz witzig sein müssten. Aber wem sollte ich sie anbieten? Das Volksblatt erschien erst am übernächsten Tag wieder. Außerdem lag das Thema etwas abseits der Redaktionslinie. Doch da war noch die tageszeitung (taz). Der lieferte ich zu dieser Zeit gelegentlich Fotos, die sich im Volksblatt nicht unterbringen ließen. Allerdings unter meinem Künstlernamen Toni Nemes. Im Volksblatt tauchte ich nur unter meinem bürgerlichen Namen oder unter Kürzel auf. Und die taz zahlte stolze 45 Mark pro Foto.
Es war schon nach 16 Uhr, die Zeit drängte. Ohne vorher anzurufen fuhr ich kurzentschlossen zur taz-Redaktion, die damals noch in der Weddinger Wattstraße residierte. Ich konnte die Lokalchefin von meinen Fotos überzeugen – allein mit Worten. Denn fertige Bilder gab es ja noch nicht. Der Film wurde im taz-eigenen Fotolabor entwickelt und eine Aufnahme abgezogen. Diese ist dann in der regulären Berlin-Ausgabe vom 2. Mai erschienen – als einziges Bild von den Ereignissen. Angesichts der damals recht frühen Redaktionsschlusszeiten allerdings mit einer entsprechend banalen Bildunterschrift. Da ist nur vom Abbruch des Festes und einem Tränengaseinsatz die Rede, nichts von den abendlichen Auseinandersetzungen, wie sie West-Berlin bis dato nicht gesehen hatte. Doch immerhin. Die anderen Tageszeitungen wie die Berliner Morgenpost und Der Tagesspiegel konnten sich nach dem Doppel-Feiertag erst in der Sonntagsausgabe am 3. Mai dem Thema widmen. Nur die Boulevardblätter machten am Morgen nach den Krawallen ganz groß auf: „Steinhagel, Feuer-Barrikaden: Beim Straßenfest tobten die Chaoten los“ reimte Springers BZ.

Lektion in Sachen Berichterstattung und Polizei

Von der taz-Redaktion fuhr ich am frühen Abend wieder zurück nach Kreuzberg. Ich habe dann bis spät in die Nacht weiter fotografiert. Und musste miterleben, wie sich aus einem friedlichen Straßenfest ein beängstigendes „Belfast in Berlin“ (Süddeutsche Zeitung) entwickelte.

Gelernt habe ich in dieser Nacht auch meine Lektion in Sachen (Foto-) Berichterstattung und Polizei. Ich hatte schon vorher verschiedentlich Polizeieinsätze mit der Kamera begleitet und bereits eine Ahnung davon, dass sich die Staatsmacht nicht gerne bei ihrer Arbeit auf die Finger schauen, geschweige denn fotografieren lässt. Nun stand ich irgendwann nach Mitternacht einem Polizisten in einem der verwinkelten Ecken am Kottbusser Tor gegenüber: Wir sind für einen Moment allein. Durch den Sucher muss ich beobachten, wie der Mensch im Kampfanzug unvermittelt seinen Schutzschild in Richtung meines Kopfes stößt. Ich kann die Kamera gerade noch rechtzeitig herunterreißen und mich wegducken. Ich mache mich schleunigst davon. Solche Erlebnisse brennen sich ein.
In der Folge hat sich mein Foto vom 1. Mai recht gut verkauft: Es ist, zusammen mit einem zweiten Bild, im Spiegel vom 11. Mai erschienen, der ersten erreichbaren Ausgabe nach dem 1. Mai. Für fürstliche 150 Mark pro Foto. Selbst beim Volksblatt Berlin konnte ich es noch unterbringen, wenn auch erst Mitte Juni im Zusammenhang mit einem Beitrag über die zunehmende Eskalation der Polizeimaßnahmen in den zurückliegenden Monaten.
Am meisten gefreut hat es mich aber, dass der Berliner Ararat-Verlag das Motiv als Ansichtskarte aufgelegt hat. Nicht des Honorars wegen – zunächst 5, später 7 Pfennig pro gedruckter Postkarte. Sondern wegen der schönen Vorstellung, dass es da Tausende Menschen gibt, die sich aus einem unübersehbaren Meer von Ansichtskarten genau „meine“ herauspicken. Bis 1991 sind in fünf Auflagen 6.000 Exemplare gedruckt worden. Die Karte hat sich – das weiß ich aus erster Hand – auch in so manchem Polizeispind oder in der ein- oder anderen Wachstube wiedergefunden. Auch anderswo gab es Liebhaber. So tauchten vereinzelt – leider schlecht gemachte – Raubkopien an fliegenden Buchständen auf.

Schwarz-weiß läuft nicht

Und weiter? Für ein Volontariat beim Volksblatt hat es nie gereicht. Die Zeitung hat die Wende ohnehin nur als Werbeblättchen überlebt und heißt jetzt wieder Spandauer Volksblatt. Back to the roots. Die Ansichtskarten gibt es auch schon lange nicht mehr. Nicht nur das Motiv selbst gilt als abseitig: „Schwarzweiß läuft nicht“, heißt es in den Verlagen.
Wohl nichts geändert hat sich an den bescheidenen Honoraren vieler Zeitungen. Aber ich will nicht meckern. Immerhin finden manche Fotos auch nach einem Vierteljahrhundert noch Interesse. Texte haben da ja meistens eine geringere Halbwertszeit. Doch nun heißt es: Warten auf den 1. Mai 2037.

Infokasten:

Toni Nemes 1987

Toni Nemes arbeitete seit 1986 als freier Text- und Fotojournalist in Berlin (u.a. Volksblatt Berlin, Berliner Stimme, Blickpunkt).
1989 war er Mitbegründer des Pressebüros transit und seitdem hauptsächlich nur noch im Fotobereich für Gewerkschaftsblätter tätig (u.a. IG Metall, HBV, IG Medien, GEW, DPG).
Toni Nemes lebt und arbeitet heute in Wiesbaden.
Er ist seit 1986 Mitglied von ver.di / IG Medien/IG Druck und Papier.

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