Zuhören, Gehörtwerden, den Dialog auf Augenhöhe führen – das sind Schlagworte unserer Zeit, Leerformeln der politischen Rhetorik. Mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sprachen wir über journalistisches Zuhören, BigTech und den Sofortismus der Sozialen Medien.
Herr Pörksen, in Ihrem neuen Buch plädieren Sie für eine Hinwendung zum Gegenüber: für eine „innere Gastfreundschaft“, eine „Bejahung des Anderen“ durch das Zuhören. Was muss in einer Gesprächssituation passieren oder vorab passiert sein, damit Sie aufgeben und sagen: Es macht keinen Sinn – wie man es auch dreht und wendet, das führt zu nichts?
Aus meiner Sicht hilft hier eine begriffliche Unterscheidung zwischen Verstehen, Verständnis und Einverständnis. Beim Verstehen geht es um die Frage: Was sagt der andere? Semantisch sollte man ihn immer verstehen, egal um wen es sich handelt: ob um einen Diktator, einen Faschisten oder einen autoritären Denker. Aber hat man auch Verständnis, kann also Motive und Empfindlichkeiten nachvollziehen? Das ist schon eine andere Frage. Und ob man ein Einverständnis für möglich hält, das steht noch mal auf einem völlig anderen Blatt. Diese begriffliche Dreistufenlehre des Kommunikationspsychologen Friedemann Schulz von Thun hilft mir, meine eigene Dialogbereitschaft zu klären. Ein Dialog ist nur dann sinnvoll, wenn man auch dazu bereit ist, Verständnis zu haben und ein Einverständnis grundsätzlich für möglich hält. Denn das dialogische Credo, so kann man mit Friedrich Nietzsche, Michael Lukas Moeller, Hannah Arendt oder Friedemann Schulz von Thun sagen, lautet: Die Wahrheit beginnt zu zweit.
Zeit ist eines der wertvollsten Dinge, die wir als Individuen haben. Sie ist auch ein wesentlicher Faktor für gute Kommunikationsbedingungen und das Gelingen von Zuhören. Welche Rolle spielt das in Ihren Überlegungen?
Für mich gibt es einen sehr unmittelbaren Zusammenhang. Auf eine Formel gebracht: Je intensiver ich mich mit einer Position auseinandergesetzt habe, je genauer ich die Umstände und den Kontext betrachte, je intensiver, je stärker ich um die Nuance ringe, desto fundierter das Urteil. Und das erfordert nun mal Zeit. Gerade aber die sozialen Medien wirken hier häufig als Brandbeschleuniger. Sie verstärken und verschärfen Konflikte, weil sie den kommentierenden Sofortismus begünstigen, die Adhoc-Reaktion, die Stichflammen-Erregung.
Trägt dazu auch der klassische Journalismus bei?
Hier tue ich mich schwer mit einem grundsätzlichen Urteil. Das auch, weil ich mich von einer pauschalen Medienkritik, die den Journalismus grundsätzlich verurteilt und verdammt, distanziere. Die halte ich oft für vulgär und für nicht gerecht. Aber es gibt in den Routinen und Darstellungsritualen des Journalismus Anreize und Fehlanreize, die ich für problematisch halte. So wie etwa die Orientierung an Aktualität anstatt an existenzieller Relevanz. Damit meine ich zum Beispiel das Wettrennen um News oder Versuche, eine Kontroverse eher zu befeuern anstatt sie zur produktiven Klärung von Unterschieden zu nutzen. Im aktuellen Journalismus erlebe ich oft einen Kult der Kurzfristigkeit.
In Ihrem Buch sind aber immer wieder auch Glanzstücke des Journalismus Thema, die beweisen, wie aufklärend journalistische Arbeit sein kann. Welche Rolle spielt dabei Zeit?
Ich denke da zum Beispiel an die Berichterstattung zum Missbrauchsskandal an der Odenwaldschule. 1999 veröffentlichte Jörg Schindler, ein junger Reporter der Frankfurter Rundschau, dazu einen Bericht, auch gegen manchen internen Widerstand aus der Zeitung. Obwohl die Verdächtigen prominent waren, die Schule hochgelobt und hier viele prominente und einflussreiche Menschen ihre Kinder untergebracht hatten, sorgte der Bericht damals für keinerlei Aufsehen. 2010 veröffentlichte Schindler im Prinzip denselben Bericht noch einmal. Innerhalb kürzester Zeit entstand nun eine kollektive Zuhörbereitschaft in der Breite der Gesellschaft. Nun war auf einmal vorstellbar, dass auch die Gurus und Priester der Reformpädagogik, so wie an der Odenwaldschule, fehlbar sind. Dass lag daran, dass mutige Betroffene bereit waren, ihr Gesicht zu zeigen und über Jahre hinweg an diesem Thema dranzubleiben und sich gegenseitig auch online vernetzen; auch an einem veränderten Wahrnehmungskontext, in dem die Öffentlichkeit durch zahllose journalistischen Berichte über das Versagen in den Reihen der katholischen Kirche stärker für das Thema Missbrauch sensibilisiert war; und zuletzt am hart zupackenden Nachfassen eines intensiv recherchierenden Journalismus, der über lange Zeit dranbleibt – und so eine aufklärerische Wirkung entfaltet
Zuhören ist nicht gleichbedeutend mit Zustimmen. Was können Journalist*innen besser machen, damit sich Menschen auf Grundlage unserer Veröffentlichungen eine unabhängige, fundierte, differenzierte Meinung bilden können?

Im Interviewtraining an Journalistenschulen, in Redaktionen oder in Fortbildungseinrichtungen geht es in der Regel um die Kontroverse, die Schlagfertigkeit, im Kern also um die Konfliktintensivierung. Ich denke aber, dass der Journalismus von Einsichten und Methoden der Kommunikationspsychologie viel lernen kann. In einer Zeit, in der viele Journalist*innen denken, man hat schon einen guten Job gemacht, wenn man die Kontroverse ausgelöst hat und die Kontroverse zum Spektakel wird, lohnt es sich, die Kunst des kommunikativen Brückenbaus zu beherrschen. Eine Demokratie ist zwar kein Stuhlkreis, in dem alle permanent wertschätzende Ich-Botschaften formulieren, und selbstverständlich braucht es den programmatischen Streit und einen kritischen Journalismus, der zupackt, nachfasst und sich mit der Macht anlegt. Was es grundsätzlich, im Umgang miteinander aber auch viel mehr braucht, das sind Techniken der öffnenden Wertschätzung, der respektvollen Konfrontation, des empathischen Zuhörens und ein wirkliches Sich-Auseinandersetzen mit den Werten des anderen.
Und zu dieser Kunst gehört auch die Sensibilität für den Kontext, der nicht zu Einverständnis führen muss, aber zumindest das Verstehen und Verständnis möglich macht. Was heißt das für die Anforderungen, den Status und die Reputation von Journalist*innen, die doch eigentlich ganz wichtige Kontextbereitsteller sind für das Begreifen der Welt?
Journalist*innen haben lange schon ihre Gatekeeper-Funktion am Tor zur öffentlichen Welt verloren. Empirisch betrachtet verfließen Kontexte: das Nahe und das Ferne, das Informierende und das Emotionale, die Welt des großen und die Welt des kleinen Ärgers. Normativ aber macht das die Auseinandersetzung mit Kontexten umso wichtiger. Das bedeutet im Kern: Journalisten können Angebote machen: zur Einordnung, Interpretation und Wirklichkeitsermittlung. Wenn ich meine eigene Medien- und Kommunikationstheorie auf eine Formel bringen würde, dann wäre das: Ohne Kontext kein Verstehen, kein Verständnis und auch keine gerechte, ausreichend fundierte Beschreibung.
In Ihrem Buch zitieren Sie den Kommunikationswissenschaftler Jay Rosen, der scheibt, es gebe „keine Position aus dem Niemandsland“ und heben die gewachsenen Möglichkeiten publizistischer Selbstermächtigung hervor. Wie aber blicken sie auf die Tendenz im zeitgenössischen Schreiben, stark um das eigene Ich oder um einen Teil der eigenen Gruppenidentität zu kreisen? Ist das guter Journalismus?
Das wäre im Extremfall ein Verlust von Wirklichkeitsberührung und die fortwährende Auseinandersetzung mit dem Krümmungswinkel des eigenen Bauchnabels. Das kann mit gutem Journalismus nicht gemeint sein. Aber wir müssen aufpassen, hier nicht etwas pauschal zu werden. Und doch: Wenn man zu sehr von den eigenen Werten überzeugt ist und die mit maximal intensivem Furor verteidigt, so dass die eigene Position gleichsam alles verschluckt, was man an Wirklichkeit aufzunehmen in der Lage ist, dann sieht man nur das, was man immer schon weiß. Einen extraterrestrischen Standpunkt, die Betrachtung aus dem Niemandsland, diesen Ort vollständiger erkenntnistheoretischer Neutralität, den kann es nicht geben. Idealerweise bemüht sich Journalismus das herzustellen, was mein Kollege Horst Pöttker, eine „zweite Natur der Offenheit“ nennt. Die erste Natur des Menschen ist auf Bestätigung aus, auf Harmonie, auf die Beseitigung kommunikativer und kognitiver Dissonanz. Die zweite Natur der Offenheit heißt hingegen: die eigenen blinden Flecken, eigenen Voreingenommenheiten erkennen, sich darum bemühen, die eigenen Vorurteile zurückzudrängen und nicht vorschnell auf der Grundlage der eigenen Position zu verurteilen.
Was braucht es medienpolitisch, um unabhängige, kritische Medien als zentrale Stützpfeiler von Demokratie zu erhalten, zu stützen oder sogar zu auszubauen?
Aus meiner Sicht sind die aktuellen Krisen des Journalismus wesentlich ökonomisch bedingt. Wir haben nach wie vor fantastische Qualitätsmedien in diesem Land. Es gibt aber ein ungelöstes Refinanzierungsproblem, da die Anzeigenmärkte weggebrochen sind. Die Strategie der Verlage ist es, auf Abonnent*innen zu setzen. Und hier stecken eigene Gefahren – nämlich die Gesinnung, nur noch die Leserschaft zu bedienen und das bloß Populäre zu publizieren, unabhängig von der tatsächlichen Relevanz. Um journalistische Qualität unter den Bedingungen der Vernetzung, einer neuen Macht des Populismus und vor dem Horizont der BigTech-Giganten zu refinanzieren braucht es dreierlei: eine Bildungsanstrengung in der Breite der Gesellschaft in Richtung einer redaktionellen Gesellschaft, in der die Normen und Prinzipien eines ideal gedachten Journalismus zum Element der Allgemeinbildung geworden sind; eine Diskursanstrengung in der Breite, die auf den Wert des unabhängigen Journalismus verweist. Nötig ist zuletzt auch eine behutsame Regulierungsanstrengung. Begrenzt werden müssen die BigTech-Giganten, die Macht von Desinformation sowie die Macht von verbaler Gewalt, aber ohne die Kommunikationsfreiheit allzu sehr beschädigen.

