Audiovisuelle Verkettung

Fernsehsender sind von gestern – Multimedia-Häuser die Zukunft

Klassische Spots und Sponsoring machen nur noch knapp 54 Prozent der Erlöse aller Fernsehsender in Deutschland aus. Zugleich stagniert der TV-Konsum der Zuschauer, wächst die Web-Nutzung. Kein Wunder, dass die Sender zur audiovisuellen Rundumverwertung übergehen: Aus TV-Sendern werden so Multimedia-Häuser – mit weitreichenden Folgen fürs Programm und seiner Trennschärfe zur Werbung.

Starwatch Music war letztes Jahr das am stärksten wachsende deutsche Label und schob sich in den nationalen Musikfirmen-Charts auf Platz zwei vor. Nicht nur Dank junger angesagter Bands wie Monrose und Marquess – die Münchner Firma hat auch Roger Cicero und Udo Lindenberg unter Vertrag. Weitgehend unbekannt ist aber, dass Starwatch Music zu 100 Prozent zur ProSiebenSat.1 Group gehört. Die Tochterfirmenliste in Deutschland des europaweiten Konzerns ist inzwischen länger als die der bekannten Free-TV-Sender. Sie reicht von SevenSenses (Video, Pay- und IPTV) über Produktionstöchter (PSP, SevenPictures, Producers at work) sowie Web-Portale und bekannte Messenger wie icq (SevenOne Intermedia) bis zum besagten Musiklabel. Von Weltvertrieben wie SevenOne International oder dem Gewinnspielsender 9live ganz abgesehen.
Auch die andere große Privatfernsehfamilie RTL Group, die zum Bertelsmann-Konzern (u.a. Gruner + Jahr) gehört, ist entsprechend aufgestellt. Die hat außer den Free-TV-Programmen auch drei Bezahlsender, diverse Online-, Mobile- und Web-Marken. Außerdem gehören zu RTL auch der weltweite TV-Produzent FremantleMedia, die größte deutsche Radiogruppe sowie die Ufa-Holding als führender Bewegtbildproduzent Deutschlands. Im Zeitschriftenbereich liefern sich die beiden TV-Riesen gerade ein witziges Duell: Der Bauer Verlag freut sich über ein erneutes Auflagenplus des Wissensmagazins „welt der wunder“ – ein Ableger der gleichnamigen Sendung bei RTL 2. Dagegen bringt Gruner + Jahr bis Anfang 2009 drei neue Ausgaben von „Wunderwelt Wissen“ heraus – lizenziert von ProSiebenSat.1 und mit Sonderteil zur „Galileo“-Formatfamilie bei Pro Sieben. Ähnlich sieht es bei Mobilangeboten, Download-Portalen und Communitys aus – Kopf-an-Kopf-Rennen untereinander und mit etablierten Verlagen.
Die Zeiten von klassischer Sendungsausstrahlung garniert mit Spot & Co. zur Refinanzierung als Programmgestaltungsprinzip sind vorbei – auch wenn herkömmliche Fernsehwerbung vorerst die Haupterlösquelle bleibt. Laut Florian Ruckert von IP Deutschland, dem Vermarkter der RTL-Gruppe, setzt die Kölner Gruppe auf die Schaffung starker Marken wie die Casting-Show „Deutschland sucht den Superstar“ (DSDS), die dann über alle möglichen Wege verbreitet und damit „kapitalisiert“ werden. Werbekunden buchen multimediale Pakete statt nur Spots. Inzwischen, so Ruckert, ist die „Mediengruppe RTL mit Top-Brands auf allen Plattformen“ gewinnbringend präsent. Sorgen bereiten ihm die geplanten neuen EU-Werberestriktionen, etwa bei Kindern, Alkohol und Autos: „Da drohen Verluste von über 410 Millionen Euro im Jahr“.

Rundumvermarktung

Ähnlich sieht das die ProSiebenSat.1-Gruppe, die immer noch 87 Prozent ihrer Erlöse aus klassischer TV-Werbung erzielt. Deren Wachstumsraten sind auch ohne EU-Auflagen begrenzt im Gegensatz zu Web, E-Commerce und Co., die seit Jahren zweistellig wachsen. Beim Münchner Konzern gilt laut Annette Kümmel das „Prinzip der 360-Grad-Rundumvermarktung von Content und Marken“. Bestes Beispiel ist die Casting-Show „Germany Next Top Model“, für deren vierte Bewerbungsrunde sich derzeit wieder fast 15.000 Möchtegerns gemeldet haben. Steigt ein Kunde mit neuen Produkten da ein, ist ihm junge, multimediale Markenpräsenz garantiert – auch durch direkte Einbindung in die Sendung. Die Palette reichte bisher von VW, Base und Bree über MaybellineJade, C&A, McFit und McDonalds bis zu Cosmopolitan und Gala. Da lotet dann Pro Sieben auch schon mal Neuland aus, was dem Sender bisher fünf Verfahren wegen Schleichwerbung einbrachte.
So ist die Trennung von Werbung und Programm mittels Sonderwerbeformen in den letzten Jahren aufgeweicht. Das ist aber nicht allein den Sendern anzulasten, sondern vielmehr auch dem Druck der Werbekunden geschuldet. Sie wollen „neue Wege zum Kunden“ beschreiten, wie VW-Internetmarketingchef Ralf Maltzen sagt. „Denke verlegerisch!“ verkündete er forsch beim jüngsten Medienforum Berlin-Brandenburg und meint damit die „Schaffung eigener Medieninhalte“. Dafür sei die vom Art Directors Club (ADC) als höchst kreativ gelobte Horst-Schlämmer-Kampagne für das neue VW-Cabrio Eos ein „Paradebeispiel“. Bei der hat Harpe Kerkeling das Produkt in witzige Web-TV-Geschichten eingebunden – kreiert und ausgestrahlt von einer Werbeagentur statt einem Sender. VW jubelte: „Mit Null Euro Mediabudget Kunden-Kontakte im Wert von 6,5 Millionen Euro Äquivalenz erreicht!“.
Inzwischen, so räumen Insider ein, entstehen dutzende TV-Formate nicht mehr aufgrund der „alten“ redaktionellen Fragen, was könnte meine erwünschte Zielgruppe interessieren und wie erreiche ich sie am besten, um dann die Sendung für Spotschaltung oder Sponsoring bei Werbekunden feilzubieten. Immer öfters steht am Anfang die „neue“ Marketing-Frage: Was will ein Kunde an Aufmerksamkeit und Webewirkung bei wem erreichen und was könnte man dazu für ein Format stricken. Durch die Diversifizierung der Sendergruppen mit multimedialen Ablegern vergrößert sich das Erlöspotential, aber auch das PR-Einfallstor. Die Palette reicht dann von der TV-Sendung, DVD und Videodownloads über Webportale, Communities und Events bis zu Klingelton, Handybildchen und Spielen. Crosspromotion eingeschlossen – etwa wenn die neue TV-Show mit Sound des sendereigenen Musik-Labels läuft.
Selbst im Informationsbereich sind erste Anzeichen neuer Programmierung erkennbar, wie das Beispiel „Sexreport 2008“ unlängst bei Pro Sieben zeigte. Da wurden zum 80. Geburtstag von Oswald Kolle nicht nur seine alten Aufklärungsfilme gezeigt, ein Interview geführt und diverse Infotainment-Sendungen mit Straßenumfragen bestückt. Nein, es musste gleich „Deutschlands größte Sexstudie“ sein: Sie wurde via Internet und mit Unterstützung der Deutschen Gesellschaft für sozialwissenschaftliche Sexualforschung sowie der University of London in Szene gesetzt. Über 55.000 Teilnehmer reichten dann für eine 5-teilige TV-Dokumentation mit Spitzen-Quoten und medienwirksamen Schlagzeilen – nicht nur im Boulevard. Wenn ProSiebenSat.1 nun Mehrheitsanteile an Webnews.de von Holtzbrinck erwirbt, lässt sich erahnen, was künftig abgeht. Bei der „Social News“-Plattform werden nicht nur Spiegel Online und Wirtschaftswoche verlinkt und unzählige Blogs gebündelt, sondern jeder Hobbyjournalist kann unter „Augenzeuge“ mitmischen: Die Entscheidung über Größe und Aufmachung einer „News“ entscheidet sich per Klickrate.

Trennungsgebot unverzichtbar

Ganz TV-bezogen und durchaus nicht nur auf Privatsender beschränkt, beschreibt Prof. Dr. Helmut Volpers vom Institut für Medienforschung Göttingen & Köln die Umbrüche in der audiovisuellen Branche Deutschlands. In der neuen Studie „Public Relations und werbliche Erscheinungsformen im Fernsehen“ im Auftrag der Landesmedienanstalten kommt er zu dem Schluss, dass durch Sonderformen sowie Praktiken der Vermischung von Werbung, Pressearbeit und Marketing neuartige PR entsteht. Sie erschwert es Zuschauern, „klar und durchgängig zu unterscheiden“. Zur Aufrechterhaltung des „Trennungsgebots als unverzichtbares und tragendes Prinzip des deutschen Medienrechts“ müsse der Gesetzgeber Normen konkretisieren, um „Grauzonen“ einzudämmen. Ziel sollten in einem „zukunftsfähigen Medienrecht“ Regelungen sein, die einen „Kernbestand journalistischer Autonomie vor ökonomischen Interessen“ bewahren hilft. Das neue EU-Recht mit der Erlaubnis für Produktplatzierung sei dabei nicht gerade „eine Aufforderung, die Trennung von Werbung und Programm zu respektieren“, moniert Norbert Schneider, Direktor der Landesmedienanstalt Nordrhein-Westfalen (LfM).

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