Thema ohne Glamour-Faktor

Warum ist Antidiskriminierung für viele Medien so uninteressant?

Eines ist sicher: Das Antidiskriminierungsgesetz wird kommen. Die Frage ist nur, wann? Zweimal schon ist es in den Wirren des deutschen Wahlkampfes untergegangen. Trotz der mahnenden Worte aus Brüssel. Jetzt steht ein offizielles Vertragsverletzungsverfahren bevor, eine schallende Ohrfeige für die Bundesrepublik. Deutschland ist neben Luxemburg das einzige Land in der Europä­ischen Union, das die bald sechs Jahre alte Richtlinie gegen Diskriminierung noch nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Aber in der öffentlichen Diskussion findet diese Debatte kaum statt. Ist Antidiskriminierung kein Thema für die Medien?

Ratlos wendet sich Dr. Matthias Mahlmann von der FU Berlin, der als unabhängiger Rechtsexperte das Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung der EU-Antidiskriminierungsrichtlinie in Deutschland für die Europäische Kommission beobachtet, an die Journalistinnen und Journalisten im dju/EU-Seminar im Februar in Berlin. „Warum ist das Thema für Journalisten so uninteressant? Sagen Sie es mir“, fordert der Jurist. Doch die Antworten gehen über Vermutungen nicht hinaus: Die Berichterstattung über Diskriminierung werde in den Redaktionen „als unangenehm, als unsexy“ empfunden, meint der frühere taz-Inlandschef Eberhard Seidel. „Keine Nähe zur Macht, kein Glamour-Faktor“, unterscheidet er zur Parlamentsberichterstattung oder zum Feuilleton. Außerdem seien Redaktionen insgesamt bei diesem Thema sehr unsicher: Soll es kontinuierlich vorkommen oder lieber durch einzelne große Geschichten, wie sieht es mit dem Ermüdungsfaktor beim Leser aus? Und wie kommt man/frau an die entsprechenden Fallbeispiele?

Hier sind die Integrations- und Ausländerbeauftragten Ansprechpartner. In vielen größeren Gemeinden gibt es auch Ausländerbeiräte. Doch nach der Beobachtung von Seidel, inzwischen Geschäftsführer des Projekts „Schule ohne Rassismus“, schicken die Redaktionen zu entsprechenden Presseterminen am liebsten Praktikantinnen und Praktikanten. Bei diesem geringen Interesse in den Redaktionen ist das Thema dann auch für viele Freie zumindest finanziell uninteressant.
Manfred Protze, Vorsitzender eines Beschwerdeausschusses des Deutschen Presserats, sieht bei der Berichterstattung über Diskriminierung zwei grundsätzliche Fraktionen in den Redaktionen: diejenigen, die alle vorhandenen Fakten einschließlich beispielsweise der Herkunft berichten, und diejenigen, die aus ethischen Gründen auf manche Details verzichten. Für den Presserat schätzt Protze die Möglichkeit der „öffentlichen Brandmarkung“ so ein: „Am Ende gehen wir davon aus, dass öffentliche Kommunikation das wirksamste Mittel ist, um diskriminierendes Denken und Fahrlässigkeit in den Redaktionen zu überwinden.“
In Deutschland, darin sind sich die europäischen Beobachter einig, verlaufe die Diskussion ganz anders als in den europäischen Nachbarländern. Laut Euro­pean Monitoring Centre on Racism and Xenophobia, das Diskriminierung in den Ländern der EU seit dem Jahr 2000 beispielsweise auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und im Erziehungswesen systematisch beobachtet, liegt es zum Teil daran, dass die meisten Deutschen glauben, solche Diskriminierung gebe es in Deutschland nicht. EU-Beobachter Mahlmann: „Die Muster für Diskriminierung sitzen wohl tiefer, als man es sich eingestehen will. Da sich Deutschland erst vor wenigen Jahren von der Illusion verabschiedet hat, kein Einwanderungsland zu sein, sind wir in der Diskussion wohl um Einiges hinterher.“
Eine zweite deutsche Besonderheit sehen Beobachter in einer massiven Kontra-Haltung aus den Reihen der Wirtschaft, in einem Grad an Emotionalisierung der Debatte mit Slogans wie „Freiheit statt Gleichheit“, die der tatsächlichen Entwicklung in Ländern, wo die Richtlinie schon seit Jahren umgesetzt ist, gar nicht entspreche. Wird hierzulande etwa vor einer Prozesslawine als Konsequenz aus einem Antikdiskriminierungsgesetz gewarnt, so sind die realen Fallzahlen in Großbritannien nur gering. Dennoch hätten es die deutschen Wirtschaftsverbände erfolgreich geschafft, die EU-Antidiskriminierungsrichtlinie mit dem ganz großen „Bürokratie aus Brüssel“-Stempel zu brandmarken.
„Wie fängt man eine Debatte wieder an, die dermaßen verbrannt und kaputt gemacht worden ist?“, fragen denn auch die EU- und Bundesintegrationsbeauftragten. Vielleicht, in dem man es von der posi­tiven Seite angeht, hat sich wohl die EU-Kommission gedacht und ihre Werbekampagne 2003 bis 2007 unter das Motto „For Diversity“, und nicht nur „Against Discrimination“ gestellt. In Deutschland leben inzwischen 14 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, in den Städten sind das rund 40 Prozent aller Jugendlichen. Eine erkleckliche potenzielle Kundenschar. Und bei der demographischen Entwicklung auch Teil der Firmenmitarbeiterschaft von Morgen. „Geschäftsnutzen von Vielfalt. Bewährte Verfahren am Arbeitsplatz“ bringt es ganz konkret eine Broschüre der EU-Kommission für Unternehmen auf den Punkt. Wenn diese in Migrantinnen und Migranten auch die Kundinnen und Kunden entdecken, kann die „bunte Belegschaft“ zur frohen Werbebotschaft werden – auch für Medienunternehmen.

Mehr Information

www.stop-discrimination.info
www.integrationsbeauftragte.de

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