Betriebsratsvorsitzende Renate Gensch wiedergewählt
Es gibt einen sicheren Trick, Renate Gensch in ein Gespräch zu verwickeln, auch wenn sie absolut im Stress ist. Man muss ihr eine Sachfrage stellen, eine möglichst knifflige, etwa nach einer Unternehmensbeteiligung. Dann kann sie nicht anders, sie muss antworten. Ausführlich zumeist, damit der Frager auch die Hintergründe versteht.
Vitaminpulver für die Abwehr und andere pfiffige Aktionen
So vorzugehen wäre freilich nicht ganz fair. Nicht nur, weil sie dringend zum nächsten Termin muss. Zeitnot war in den letzten Monaten Normalzustand für die Betriebsratsvorsitzende des Berliner Verlages, speziell seit das Medienunternehmen im Oktober 2005 in einer spektakulären und von Protesten begleiteten Aktion von dem anglo-amerikanischen Finanzkonsortium Mecom / VSS gekauft wurde. Da die „Heuschrecken“-Übernahme mit der Gründung eines Konzernbetriebsrates und später noch mit der eines gewerkschaftlichen Aktionsausschusses beantwortet wurde und zudem Betriebsratswahlen anstanden, fand sich in ihrem Kalender kaum eine Lücke. Kollegen aus Luxemburg erwischten eine. „Die wollten von unserem Know-how profitieren. Und das konnten sie auch“, sagt Gensch. Auf dem Tisch liegen die zwei Limburger Tageszeitungen, die Mecom-Chef David Montgomery, ein unersättlicher Renditejäger, kürzlich samt Druckerei und Anzeigenblatt geschluckt hat. Die Berlinerin, notgedrungen kundig im Jagdrevier, verwies die Gäste auf die Erfahrungen mit dem Euro-Betriebsrat von Gruner + Jahr seit 1996. Um die Finten aufzudecken, durchforschten Renate und ihre zehn BetriebsratskollegInnen die Struktur- und Finanzverquickungen der jetzigen Eigener. Bis nach New York und Kanada reichen die Verbindungen. Ständig werden neue aufgespürt. Eine „mühselige Arbeit“, aber spannend und nötig, „um zu verstehen, wie das alles funktioniert und welche Gefahren lauern“. Deshalb wurde jetzt auch ein Konzernbetriebsrat gemeinsam mit der Hamburger Morgenpost gebildet, die von den nämlichen „Investoren“ vereinnahmt wurde. Chefin erneut: Renate Gensch.
Durch die Interessenvertretungen „Linie einzuziehen“, als Mannschaft die Klippen zu umschiffen und das noch nicht ganz hochseetaugliche Management gemeinsam vor sich her zu schieben und „jedenfalls nicht zur Ruhe kommen zu lassen“, das ist eine Vorstellung, die ihrem Verständnis von Waffengleichheit entspricht und die ihr den Stress wirklich wert macht. Gerade, weil „gar nicht lustig“ ist, was die neuen Eigentümer im Verlag planen und bisher weitgehend unter der Decke halten. Dass erst drei Kündigungen auf dem Tisch lägen, höre sich harmlos an, räumt die Interessenvertreterin ein, sieht das aber als Teil einer „Salamitaktik“. Es gehe deshalb nicht nur um die Rücknahme der Entlassungen, sondern um einen Tarifvertrag zur Beschäftigungssicherung, die Anerkennung von Redaktionsstatuten und die Autonomie der verschiedenen Blätter. „Ausschlaggebend ist, dass die Beschäftigten der vier Blätter und der Druckerei zusammenhalten“, sagt die Teamworkerin Gensch, die für jede Anregung offen ist. Die Aktion „Wir für Euch – Ihr für uns“ mit gegenseitigen Besuchen am Arbeitsplatz und der absichtsvollen Verteilung von Vitaminpulver, um die „Abwehr zu stärken“, habe dazu beigetragen. Auch die Herausgabe von „Skullar-Noten“, eine Idee von Grafikern. Die Scheine zeigen statt des George-Washington-Porträts ein Konterfei von Geschäftsführer Peter Skulimma samt ironischen Sprüchen und gingen weg wie warme Semmeln. Im Mai soll ein Bowlingturnier mit gemischt ausgelosten Mannschaften steigen. Solche Aktionen mit Hintersinn und Spaßfaktor mag die Betriebsratsvorsitzende, die selbst kein Kind von Traurigkeit ist. Sie legt gern eine kesse Sohle aufs Parkett und wer sie kennt, glaubt ihr, dass im kommenden Jahr, wenn sie 50 wird, eine „Big Party“ angesagt ist. Spaß hat Renate an jedem munteren Schwatz – womöglich ein Relikt ihrer beruflichen Anfänge im Lokal- und Klatschressort – aber vor allem an anderen Dingen: Initiative ergreifen, Kollegen helfen, Arbeitsbedingungen besser regeln, Gekündigte begleiten, ihnen Mut geben und am besten noch eine echte Chance erkämpfen. Dass inzwischen 15 der bei der Kündigungswelle 2002 Entlassenen wieder eingeklagt oder zurückgeholt werden konnten, rechnet sie sich als persönlichen Erfolg an. Auch das Job-Ticket, mit dem die Beschäftigten zum halben Preis mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, weil sich das Unternehmen an der Jahreskarte beteiligt, oder das verbilligte Kantinenessen.
Wichtige Ideengeberin auch in der dju
Dass sie außerdem im dju-Landes- und -Bundesvorstand mitmischt und den „kurzen Draht“ zur Gewerkschaft wie eine Lebensader sieht, muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Als „engagiert bis zur Selbstaufopferung“, wichtige Ideengeberin und nimmermüde Akteurin schätzt Andreas Köhn, stellvertretender ver.di-Landeschef Berlin-Brandenburg, seine bewährte ehrenamtliche Mitstreiterin. Im Oktober wird die Journalistin mit den norddeutschen Wurzeln, die 1991 als Polizeireporterin zum „Berliner Kurier“ kam, 15 Jahre im Unternehmen sein. Einen besseren Ausweis für Konfliktfähigkeit kann man ihr nicht ausstellen. Es gab anfangs wohl auch in der Belegschaft einige, die dem kettenrauchenden, weiblichen Hans-Dampf-in-allen-Gassen mit Junge-Union-Vergangenheit den Betriebsratsvorsitz nicht recht zutrauten. Das ist Schnee von gestern. Augenhöhe mit dem jeweiligen Management hat sich die 1,63 m kleine, robuste Person stets erstritten – ausschließlich mit Steherqualitäten.