Handlich und volksnah

Innovationen auf Europäischem Zeitungskongress in Wien vorgestellt

Die Verkaufszahlen sinken, die Leser werden älter, dazu die mächtige Konkurrenz durch das schnelle Internet – die Zeitung steht seit Jahren vor existentiellen Herausforderungen. Diese werden von einigen Verlagen auch als Chance verstanden. Sie nutzen die neuen technischen Möglichkeiten wie Internet, Digitalkamera oder das Fotohandy, um so schnell wie nie zuvor an Informationen zu kommen – und zwar mit Hilfe der eigenen Leser. Der Effekt: Die Zeitung gewinnt an Tempo und erhöht ihre Bindungskräfte. „Nachrichten von unten“ lässt sich dieser Trend bezeichnen, der inzwischen aus dem Experimentierstadium herausgewachsen ist.

Um von der norwegischen Hauptstadt Oslo nach Bergen zu kommen, braucht man einige Stunden. Geschieht dort etwas Bemerkenswertes, dauert es, bis die Information in eine hauptstädtische Zeitung kommt, es sei denn, ein Reporter ist zufällig vor Ort. So war es die Praxis – bis vor einigen Jahren vor Bergens Küste ein Schiff kenterte und die Redakteure des Boulevardblatts „Verdens Gang“ auf eine Idee kamen. „Es war am späten Nachmittag, als wir die Nachricht erhielten“, berichtet Chefredakteur Torry Pedersen auf dem Europäischen Zeitungskongress in Wien. „Sofort schauten wir uns das auf einer Karte im Internet an und sahen, dass das Schiff in der Nähe der Küste gekentert war. Da riefen wir alle Leute an, die dort wohnten und fragten, ob sie vielleicht eine Digitalkamera oder ein Handy hätten, um für uns Fotos zu machen. Die Überraschung war: Jeder wollte uns helfen! Innerhalb von 20 Minuten hatten wir die phantastischsten Bilder von dem Unfall. Vielleicht war das technisch nicht so gut, aber sie haben den entscheidenden Moment festgehalten, als das Schiff kenterte und 18 Personen ihr Leben verloren.“

Einzigartige Lesermitarbeit

Jenseits des tragischen Unglücksfalls begann von diesem Zeitpunkt an eine einzigartige Zusammenarbeit mit dem Leser, die bis heute anhält. „Verdens Gang“ schuf eine Infrastruktur, mit der Bilder, die an die norwegische Telefonnummer 2200 geschickt werden, sofort im Redaktionssystem erscheinen, dann auf die Website gestellt oder im gedruckten Blatt verwendet werden können. Hunderte von Fotos kommen regelmäßig ins System, wenn es irgendwo „brennt“. Wird ein Bild in der Zeitung veröffentlicht, gibt es sogar ein Honorar, auch wenn das, wie Pedersen meint, nicht die Motivation der Laienfotographen ist. „Sie wollen einfach ein Teil der Nachrichten sein, dabei sein, wenn etwas passiert.“
Die Glaubwürdigkeit dieser Bilder sieht Chefredakteur Pedersen nicht in Frage gestellt – auf Grund der Vielzahl und der Schnelligkeit der Einsendungen sind Manipulationen schwer möglich. Außerdem wird alles mit den wichtigsten Nachrichtenagenturen abgeglichen. Pedersen ist sich sicher, dass es in Zukunft vornehmlich Laienphotographen sein werden und nicht die Profis, die aufregende Bilder liefern. Nichts hätte das besser dokumentiert, als die Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004. „Bis dahin waren die stärksten Nachrichtenagenturen diejenigen, die einen Helikopter mieten konnten oder Satellitenverbindungen. In der Zukunft wird das anders sein.“ erklärt Pedersen. „Es wird der die Nummer eins sein, der mit jemandem befreundet ist, der ein Handy in seiner Tasche hat. Wenn Sie in der Mitte einer Flutwelle sind, glauben Sie, dass sie dann an unsere Telefonnummer denken? Das ist um 4.56 Uhr am 26.12.2004 passiert. Jemand hat uns eine SMS geschickt mit einem Foto von der Flutwelle, 15 Minuten, bevor es über die Agenturen kam. Ein beeindruckendes Bild. Sie sehen die Wasserwand, wie sie auf die Leute im Boot zukommt.“

Leser als Autoren im Netz

Auf „Informationen von unten“ setzt auch die Rheinische Post aus Düsseldorf. Seit anderthalb Jahren gibt es dort das Projekt „Opinio“, ein Meinungsforum im Internet, das von den Lesern mit Texten gefüllt wird. Über 400.000 registrierte Nutzer und rund 2.000 Autoren aus allen sozialen Schichten beteiligen sich an der Plattform, die von einem Redaktionsteam betreut wird. Der Journalist im Dienste seiner Leser – auf ganz neue Weise. „Der Journalismus, der solche Communities betreut, organisiert und pflegt, ist gewissermaßen ein Hausmeisterdienst“, sagt Projektleiter Torsten Casimir. „Das ist journalistische Sozialarbeit, die Sie da machen. Und Sie sind dann gut, wenn Ihre Autoren zufrieden sind.“
Einmal im Monat erscheinen Auszüge aus den Lesertexten in einem gedruckten Magazin, das der Zeitung beigelegt wird. Dabei dreht es sich vor allem um Alltagserfahrungen. Und wenn zum Beispiel Politik Thema ist, dann aus der Perspektive des von der Politik betroffenen Bürgers. Angst, dass dies die Profis verdrängen könnte, gibt es aus diesem Grund in der Branche nicht, erklärt Torsten Casimir von der Rheinischen Post. „Erstens Authentizität und zweitens unglaublich zeitnah zum Ereignis – das sind Qualitäten, die können Profis gar nicht bringen, weil wir gar nicht überall auf der Welt gleichzeitig sein können und das ist das große Plus für die Laien im Internetzeitalter. Das wird die Profis aber nicht verdrängen, das ist eine ergänzende Schiene.“ Schließlich lässt sich auf professionelle Recherche und die Aufbereitung von Inhalten nicht verzichten.
Inwieweit es gelingt, mit der Leserbeteiligung diese an die Zeitung zu binden oder sogar neue zu gewinnen, ist allerdings offen. Gestartet, um den Auflagenschwund zu stoppen und das Interesse an der Zeitung zu steigern, spricht die Rheinische Post heute erst einmal von einem Imagegewinn, den „Opinio“ gebracht hat. Finanziell gesehen ist man mit dem Projekt noch nicht einmal bei der schwarzen Null. Doch die Hoffnung ist groß, dass aus dem „Opinio“-Aktiven vielleicht einmal ein Abonnent wird.

Hinwendung zum Tabloid

Nicht nur inhaltlich, auch im Layout versuchen die Zeitungen, ihren Lesern entgegen zu kommen. Über 300 Redaktionen aus 26 Ländern hatten im Vorfeld des Kongresses ihre Konzepte bei einer Jury aus Journalisten, Wissenschaftlern und Zeitungsdesignern eingereicht. Deutlich wurde: Statt schwer verdaulichen Bleiwüsten bestimmen heute Blickfänge wie exzellente Fotos im Zusammenspiel mit ausgefeilter Typographie und Headlines, die den Leser in den Text ziehen, die Optik. Ein weiterer Trend: Die Hinwendung zum Tabloid, dem kleinsten Tageszeitungsformat. Zu 80 % in Griechenland, zu 90 % in Polen und zu 100 % in Estland, Spanien und Portugal auf dem Markt, ist es begehrt wegen seiner Handlichkeit.
Allerdings assoziiert es dem Leser vor allem Boulevard, unabhängig vom Inhalt. Aus diesem Grund geht nicht jedes Blatt diesen Trend mit, wie zum Beispiel der in Wien für sein Layout ausgezeichnete konservative Guardian. „Wenn Sie in Länder wie Spanien gehen“, erläutert Chefredakteur Alan Russbridger, „da gibt es sehr intelligente Tabloidzeitungen. In Großbritannien geht es auf dem Tabloidmarkt darum, Aufsehen zu erregen, um Sensationen und den Reiz des Neuen. Die Versuchung besteht darin, einige dieser Techniken zu übernehmen.“ Deshalb setzte das Blatt, das nach einem Verlust von sechs Millionen Pfund 2003 einen Relaunch startete, auf das etwas größere, dennoch sehr handliche Berliner Format – mit positiver Resonanz. Ähnlich wie der Guardian widersetzt sich auch der deutsche Markt fast komplett dem Tabloid. Ein Grund: Die Mehrzahl der Regionalzeitungen erscheint bereits im Berliner Format.
Jenseits jeglicher Formattrends positioniert sich dagegen die Wochenzeitung Die Zeit. „Im Bett und im Flugzeug ist Die Zeit die Hölle“, räumt Chefredakteur Giovanni Di Lorenzo zwar ein. Dennoch will er nicht einen Quadratzentimeter einsparen, aus Angst, dass es falsch interpretiert werden könnte. „Eine Formatverkleinerung würde von einem Teil der Leser verstanden werden als Versuch die Zeitung zu trivialisieren, zu popularisieren.“ Die Zahlen geben seiner Beharrlichkeit Recht: In den letzten beiden Jahren ist die Auflage um drei Prozent gestiegen. Veränderungen im Blatt gab es allerdings schon: Die Zeit ist bunter geworden, die Titelseite wird sehr plakativ gestaltet. Für ihr Konzept wurde sie als beste europäische Wochenzeitung ausgezeichnet.
Vielleicht gehören die Überlegungen über das Format jedoch bald der Vergangenheit an. Denn darüber, dass es den guten alten Klassiker Zeitung auch in 100 Jahren noch geben wird, war man sich in Wien zwar einig. Allerdings wird sie anders rezipiert werden – glaubt Alan Russbridger, Chefredakteur des Guardian. „In dem Moment, wo elektronische Zeitungen erhältlich sind, die man überall lesen kann und die auch entsprechend haltbare Batterien haben, werden die Leute aufhören, Zeitung auf Papier zu lesen. Und das wird gut sein für die Tageszeitungen. Es ist so teuer, Zeitungen zu produzieren, auszuliefern und über’s ganze Land zu verteilen. Das macht 60 Prozent unserer Kosten aus. So dass ich denke, dass auf lange Sicht die ökonomische Perspektive für die Zeitungen recht gut ist.“ Bis dahin werden die klassischen Grenzen mehr und mehr verwischen. Die Zeitung wird zunehmend eine Mischung aus elektronischem und Printmedium sein, gefüllt mit professionellem und Laienjournalismus, wobei – wenn es um Qualität geht – auf die lenkende Hand des Profis allerdings nicht verzichtet werden kann.

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