Studie zeigt dramatische Arbeitsbedingungen bei Film und Fernsehen auf
Als ein Eldorado für Quereinsteiger bezeichnet die Studie des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung mit dem Titel „Arbeits- und Leistungsbedingungen von Film- und Fernsehschaffenden“ aus München die Audiovisuelle Medienbranche. Trotz dualer Ausbildungsgänge für die Film- und Fernsehwirtschaft und trotz medienspezifischer Studiengänge haben auch in Zeiten einer grassierenden Medienkrise Quereinsteiger ihre Chance. Über Praktika und Assistenzen gelingt ihnen der Sprung in die schillernde Welt des Fernsehens.
Nach einem Beispiel für einen Quereinstieg in das Film- und Fernsehgeschäft muss Kamerafrau Bernhardine Schippers nicht lange suchen. „Es war Anfang der 90er Jahre in Rom. Wir hatten einen Taxifahrer aus Köln mit, der uns fahren und während der Dreharbeiten beim Wagen bleiben sollte“, erinnert sich die Diplom-Designerin für visuelle Kommunikation. Der Taxifahrer muss schwer beeindruckt gewesen sein von dem Job am Set. Denn vier Wochen nach ihrer Rückkehr aus der Ewigen Stadt trafen sich die Kamerafrau und ihr Fahrer wieder. Doch der Mann aus Köln hatte seinen Beruf inzwischen gewechselt. Ausgestattet mit einer Fernseh-Kamera ging er bei einem Pressetermin in Bonn auf Bernhardine Schippers zu und sagte stolz: „Hallo, ich bin jetzt auch Kameramann.“
Ein Einzelfall? Nein, denn die Berufe in der Film- und Fernsehbranche folgen eigenen Gesetzen. Dies belegt die Ende Januar in Berlin vorgestellte Studie. Für den leichten Zugang von Quereinsteigern gibt es zwei Gründe: Erstens sind Berufsbezeichnungen wie Tonmeister, Kameramann oder Filmausstatter keine geschützten Berufe. Zertifikate oder Examen spielen keine allzu große Rolle. Der zweite Grund ist die Bereitschaft der Bewerber, alles zu geben und dafür nur wenig Gegenleistung zu verlangen; schon gar nicht einen sicheren Job. Kira Marrs vom Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung und Verfasserin der Studie spricht in diesem Zusammenhang von „Leidensbereitschaft“, die Bewerber mitbringen sollten.
Verheerende Arbeitszeiten
Die Branche dürfte das anders sehen. Sie gibt sich jung, hipp und modern. So modern, dass sie gerne als das Paradebeispiel einer „modernen Dienstleistungsbranche“ herangezogen wird. Vornehmlich die Befürworter eines zu deregulierenden Arbeitsrechts zeigen sich von den Gesetzmäßigkeiten der Film- und Fernsehwirtschaft angetan. Ein hoher Grad an Flexibilität und große Leistungsbereitschaft werden den Beschäftigten bescheinigt. Statt auf kollektive Interessenvertretungen wie Betriebsräte und Gewerkschaften, vertrauen die Angehörigen der 50 verschiedenen Berufsgruppen bei Film und Fernsehen auf ihre eigene Kraft und ihren Anspruch, selbstbestimmt arbeiten zu können. Doch dieser Einschätzung scheint die Grundlage entzogen zu sein. Umstrukturierungen, Outsourcing, sinkende Honorare und nicht zuletzt die Medienkrise sorgen für eine prekäre Situation unter den mehr als 100.000 Beschäftigten der Film- und Fernsehbranche. Statt Selbstbestimmung dominieren wachsender Konkurrenzdruck und Dumping-Honorare. Anspruch und Wirklichkeit driften auseinander.
Nicht Dauerarbeitsverhältnisse, sondern auf die Dauer eines Filmprojekts befristete Arbeitsverhältnisse prägen die Beschäftigungsbedingungen der Branche. Einer Analyse der Branchen-Verhältnisse im Land Nordrhein-Westfalen zufolge stieg die Zahl der Festangestellten zwischen 1990 und 1999 von 1.750 auf 4.900 Mitarbeiter. Die Gruppe jener in befristeten Arbeitsverhältnissen und als Freiberufler tätigen Personen hingegen vervierfachte sich im gleichen Zeitraum von 4.900 auf 19.700. In der Praxis sieht das so aus, dass 90 Prozent eines Produktionsteams mit einem befristeten Arbeitsvertrag ausgestattet sind.
Die Folgen dieser Entwicklung, bei der die Zahl der geschützten Normalarbeitsverhältnisse weniger steigt bzw. häufig zurückgeht, und die der ungeschützten, weil atypischen Beschäftigungsformen wie befristeter Beschäftigung oder einer Tätigkeit auf Honorarbasis als Freiberufler gravierend zunimmt, sind alarmierend. Die ISF-Studie spricht von Arbeits- und Leistungsbedingungen, die geprägt sind durch Fremdbestimmung, hohe Belastungen und vielfältige Unsicherheiten. Sicher gebe es auch einzelne Personen, die ausreichend hohe Einkünfte erzielten, um für den Krankheitsfall und für eine entsprechende Alterssicherung zu sorgen. Der weitaus größere Teil habe indes bereits Probleme, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Oft könne die Tätigkeit in der Branche nur ausgeübt werden, sofern die Familie oder ein festangestellter Partner die nötige wirtschaftliche Sicherheit garantiert. Fehlt es hieran, überbrücken einige ihre finanziellen Durststrecken mit anderen Jobs, etwa Kellnern, Taxifahren oder eine Tätigkeit als Fotograf. Letzter Ausweg ist der Gang zum Arbeitsamt.
Doch hier droht den befristet Beschäftigten Ungemach. Schließlich gibt es Arbeitslosengeld nur, wenn mindestens 360 Tage in den letzten drei Jahren vor Eintritt der Arbeitslosigkeit gearbeitet worden ist. Möglicherweise eine schwer zu nehmende Hürde für einige. Denn für Beschäftigte der TV-Branche ist es nicht ungewöhnlich, dass sie in einem Monat nur ein oder zwei Tage arbeiten, im nächsten Monat aber dafür jeden Tag. Und zwar mit einer Arbeitszeit jenseits aller normaler Dimensionen. Laut ISF-Studie sind tägliche Arbeitszeiten von 16 Stunden inklusive An- und Abreise keine Seltenheit in der Branche. Umgerechnet auf die für Normalarbeitsverhältnisse geltende tarifübliche Arbeitszeit, entsprechen 30 Arbeitstage eines befristet Beschäftigten in der Film- und Fernsehbranche der Arbeitsleistung, die ein Festangestellter in 60 Tagen erbringt. Das Arbeitszeitgesetz und die in ihm fest geschriebenen Höchstarbeitszeiten scheinen für die Branche keinerlei Geltung zu haben.
Prinzipiell schutzlos
Für weitere Probleme im Fall einer Arbeitslosigkeit sorgt, dass die Audiovisuelle Branche – abgesehen von Werbung und Serien – ein Saisongeschäft ist. Die Hochphasen sind laut Studie die Monate Mai bis August. Für Steffen Schmidt, Geschäftsführer beim Bundesverband Regie, ein Beweis dafür, dass es an der Zeit wäre, die Tätigkeit von Beschäftigten in der Film- und Fernsehbranche als Saisonarbeit zu qualifizieren. Würde der Gesetzgeber sich hierzu durchringen, wäre die Anwartschaftszeit für das Arbeitslosengeld nach Maßgabe des Paragrafen 123 Ziffer 3 des Sozialgesetzbuchs Drittes Buch statt nach zwölf, bereits nach sechs Monaten erfüllt.
Zwar rangieren Regisseure in der Hierarchie der AV-Branche ziemlich weit oben. Gleichwohl sehen auch sie sich Bedingungen ausgesetzt, die mit dem Tarifvertrag für Film- und Fernsehschaffende nicht in Einklang zu bringen sind. Solange kollektive Interessenvertretungen und Tarifbindung indes nur bei den Sendeanstalten und größeren Filmproduktionsfirmen anzutreffen sind, ist für Steffen Schmidt das Ziel klar: „Die Bundesregierung sollte erwägen, den Tarifvertrag zu einem allgemeinverbindlichen zu erklären.“ Insbesondere wenn es um die Behandlung von Urlaubsansprüchen geht. So würden nicht selten mit der letzten Gage bestehende Urlaubsansprüche durch eine Ausgleichszahlung abgegolten. Dies wirke sich gleich zweimal zum Nachteil des Beschäftigten aus. Erstens finde das über der Beitragsbemessungsgrenze zur Sozialversicherung liegende Einkommen keine Berücksichtigung. Zweitens führe die in der Branche immer öfter vorzufindende Auszahlungspraxis zu Unbilligkeiten, wenn es anschließend zur Arbeitslosigkeit kommt und als Folge der Auszahlung die Anwartschaftszeiten nicht erfüllt sind. Schmidt fordert deshalb, die Auszahlung nur dann zuzulassen, wenn der Beschäftigte den Nachweis einer Anschlussbeschäftigung erbringt. Schmidt darf sich durch die ISF-Studie bestätigt sehen. Denn Anschlussbeschäftigungen sind nach Abschluss eines Projekts für die meisten Beschäftigten in der AV-Branche der Ausnahmefall. Selbst wenn es welche gäbe, stellt sich die Frage, ob die Leistungskraft ausreicht, um gleich ins nächste Projekt mit gleichermaßen verheerenden Arbeitszeiten zu starten. Laut ISF-Studie führen die Arbeitsbedingungen und das abverlangte Leistungsverhalten dazu, dass nach Abschluss eines Projekts die Erholung höchste Priorität besitzt.
Um so mehr macht die Forderung des Regieverbands Sinn. Ob das Bundeskabinett für die Vorschläge des Berufsverbandes der Regisseure ein offenes Ohr hat, darf angesichts der aktuell geführten Diskussion um die Reform des Arbeitsschutzrechts bezweifelt werden. Gleichwohl sollte die Bundesregierung nicht die Augen verschließen, wenn die ISF-Studie feststellt, dass die Medienkrise und unzureichender gesetzlicher Schutz die freien Film- und Fernsehschaffenden prinzipiell schutzlos macht.
Die Formel „Selbstbestimmung ersetzt Mitbestimmung“ greife hier entgegen neo-liberalen Überzeugungen eben nicht. Denn laut ISF-Studie stehen die in atypischen Beschäftigungsverhältnissen angestellten Personen den Gewerkschaften eben nicht ablehnend gegenüber. Statt den Traum von der individuellen Selbstverwirklichung weiter zu verfolgen, sehen sich die Beschäftigten in der Film- und Fernsehbranche einer Realität gegenüber, die die Sozialwissenschaftler Kira Marrs und Andreas Boes zu folgender These veranlasst haben: „Die Arbeitsbedingungen werden von der übergroßen Mehrzahl als „frühkapitalistisch“ und „unfair“ erlebt. Sie stehen in einem krassen Widerspruch zum Arbeits- und Lebenskonzept der freien Film- und Fernsehschaffenden.“
Den Gewerkschaften dürften sich neue Betätigungsfelder in dieser von der Krise besonders geschüttelten Branche eröffnen. Denn wie es scheint, ist der Tausch einer Fernsehkamera gegen einen Taxischein heute eher wahrscheinlich als der umgekehrte Fall.