Lauschangriff: Variante D

„Erfolg für die Pressefreiheit“ – mit der gebotenen Skepsis begrüßt

Was wir kaum für möglich gehalten hatten: In letzter Minute wurden Journalisten doch noch vom neuen Lauschgesetz ausgenommen. Aber um welchen Preis?

Rückblick auf die parlamentarische Vorgeschichte: Unterhändler von CDU/CSU, SPD und FDP einigen sich über den Großen Lauschangriff.

16. Januar: Der Bundestag stimmt mit vier Stimmen Mehrheit der Änderung des Grundgesetz-Artikels 13 (Unverletzlichkeit der Wohnung) zu.

6. Februar: Der Bundesrat stimmt mit einer Stimme Mehrheit der Verfassungsänderung zu. Aber der Bremer Bürgermeister Henning Scherf (SPD) läßt sich seine Zustimmung – er brachte die ausschlaggebenden Stimmen – nur für einen Kompromiß abringen: Scherf erzwingt, daß die sozialdemokratisch und die rot/grün regierten Länder für die Ausführungsgesetze zum Lauschangriff ein Vermittlungsverfahren verlangen.

2. März (am Tag nach der niedersächsischen Landtagswahl): Der Vermittlungsausschuß berät.

5. März: Der Bundestag stimmt über das Ergebnis ab.

6. März: Der Bundesrat hat das letzte Wort.

Allgemein wurde erwartet, daß ein Vermittlungsversuch an der Regierungsmehrheit im Bundestag scheitern und die SPD-Mehrheit sich dahinter verstecken würde, zumal sich der frisch benannte Kanzlerkandidat Gerhard Schröder zum alten Gesetzentwurf bekannt hatte. Doch es kam anders. Überraschend wurde die in M 3/98 als Variante D vorgestellte politische Variante Wirklichkeit.

Die rot/grüne Mehrheit im Vermittlungsausschuß verlangte, außer Geistlichen, Strafverteidigern und Abgeordneten alle Berufsgruppen mit Zeugnisverweigerungsrecht vom Belauschen auszunehmen – obwohl die Sozialdemokraten vorher mit CDU/CSU/FDP einig waren, dies nicht zu tun! Es folgte die zweite Sensation: Neun FDP-Bundestagsabgeordnete scherten aus und stimmten ebenfalls für den erweiterten Kreis der geschützten Berufe. Die dritte: Bündnisgrüne und PDS schlossen sich aus taktischen Gründen an, obwohl sie prinzipiell gegen jeden Lauschangriff sind. Und daraus folgte die vierte: Die Bonner Regierungkoalition erlitt eine Abstimmungsniederlage (322:329), die ihr schwer zu schaffen machte. Tags darauf bestätigte der Bundesrat den Beschluß mit Mehrheit (39 von 68 Länderstimmen).

Demnach sind also jetzt Wohnungen und Arbeitsräume aller im Paragrafen 53 der Strafprozeßordnung (Zeugnisverweigerungsrecht) genannten Berufsgruppen abhörfreie Zonen: Rechtsanwälte, Patentanwälte, Notare, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Hebammen, Drogenberater, Journalisten.

Für die Journalisten, deren Berufsorganisationen (ebenso wie die Zeitungs- und Zeitschriftenverleger sowie der Deutsche Presserat) gegen den Lausch-„Angriff auf die Pressefreiheit“ energisch protestiert hatten, war das ein erfreuliches Ergebnis. Aber der scheinbare Erfolg wurde mit dem tiefen Einschnitt in den Grundrechts-Artikel 13 erkauft. Die unter dem Vorwand des Kampfes gegen die organisierte Kriminalität drohende Wanzenplage wird die Redaktionen aussparen. Doch der Große Lauschangriff ist durch. Mit der Stimme von Henning Scherf. Anzurechnen ist ihm allenfalls, daß er mit einem unkonventionellen Vorstoß im Alleingang dazu beitrug, noch Schlimmeres zu verhüten.

 

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