Einfluss von Gewaltfilmen verharmlost
Mediengewaltkonsum erhöht Aggressivität und Gewalttätigkeit bei Jugendlichen. Das wurde mehrfach wissenschaftlich bewiesen. Auf einem Münchner Medienkongress 2002 etwa nannten Medienwissenschaftler und Psychologen Zahlen und Fakten: Der Einfluss gewaltverherrlichender Bilder wirkt sich auf 10 bis 15 Prozent von Kindern und Jugendlichen negativ aus – das sind in Deutschland rund 1,5 Millionen. Auf einer verbindlichen Statistik aller Faktoren, die Aggressivität bei Schülern provozieren und fördern, rangiert der Mediengewalt-Konsum mit 18 Prozent hinter dem Erleben von Gruppengewalt (31 %) an zweiter Stelle.
Ernst genommen werden solche Statistiken jedoch bedauerlicherweise noch immer nicht. Das zeigte sich jüngst bei der Berichterstattung zum Amoklauf eines Schülers in Coburg: Anne Will gab in den „Tagesthemen“ der ARD gegenüber ihrem Gesprächspartner Christian Pfeifer, Direktor vom kriminologischen Institut Hannover, zu bedenken, ein Zusammenhang von gewaltverherrlichenden Bildern und Jugendkriminalität sei noch nicht erwiesen. Ist die Moderatorin über die Forschung nur nicht im Bilde?
Gegen Quotenauswertung
Da vorausgesetzt werden darf, dass Journalisten das Handwerk einer soliden Recherche beherrschen, scheint wahrscheinlicher, was Psychologen auf einer Diskussionsveranstaltung des Vereins Sichtwechsel für gewaltfreie Medien e.V. unter dem Thema „Kinder im Spannungsfeld der Medien“ in der Berliner Konrad-Adenauer-Stiftung Mitte Juni dargelegt haben: Dass Politiker, Medienvertreter und Wissenschaftler den negativen Einfluss entsprechender Filme systematisch anzweifeln und verharmlosen, „damit das Geschäft mit der Gewalt weitergehen kann.“ Im Streben nach Profit richten die Macher ihr Programm also ganz nach den Einschaltquoten aus. Dabei geben diese Quoten – wie Leonija Wuss-Mundeciema von „Sichtwechsel“ zurecht zu bedenken gibt – im Zuge ihrer anonymen Ermittlung keine Auskunft darüber, ob die Testgruppe die jeweiligen Sendungen nur laufen lässt oder bewusst anschaut, und schon gar nicht, wie sie diese bewertet. Eine der Forderungen des Vereins ist es deshalb, dass die qualitative Forschung und Auswertung über die quantitative gestellt wird.
Für eine Diskussion des Kunstbegriffs
Auch das im April geänderte Jugendmedienschutzgesetz und die im Juni am Runden Tisch der Bundesregierung verabschiedeten „Leitlinien gegen Gewalt und für Toleranz“ sind mit Skepsis zu betrachten. Renate Zylla aus dem Vorstand von Sichtwechsel und langjährige Direktorin des Kinderfilmfests der Berlinale kritisiert, dass die Vereinigung Medien e.V. und ähnliche Verbraucher-Initiativen nicht teilnehmen durften. Fraglich ist auch, ob geplante Kampagnen wie „Schau hin!“, die von der Programmzeitschrift „HÖRZU“, ARD, ZDF und Intel getragen wird, den gewünschten Erfolg bringen. „Statt jugendgefährdende Sendungen zu kennzeichnen oder die Hoffnung auf den werbewirksamen einmaligen Auftritt einer Prominenten wie Nena zu setzen, sollten wir uns doch fragen, warum eine Sendung, die Gewalt als Selbstzweck behandelt, ausgestrahlt wird“, sagt Renate Zylla, die auch in der FSF prüft. Vor allem: Der Gradmesser für Gewaltdarstellungen bleibt bei allen objektiven Richtlinien ein individueller, denn die einzelnen Prüfer der Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen (FSF) entscheiden je nach persönlichem Background über den Sendeplatz. Deswegen ist es Renate Zylla aus eigener Erfahrung ein Anliegen, Prüfkompetenz durch Supervision zu stärken. Schon unter Erziehungsberechtigten und Filmkritikern gehen ja – je nachdem wie sensibel oder abgestumpft sie sind – die Meinungen weit auseinander darüber, ob bestimmte Filme oder Szenen als brutal oder harmlos einzustufen sind. Obendrein sind Vorgaben zu bestimmten Sendezeiten ineffizient, da sich alle Filme auf Video aufzuzeichnen lassen. Für die Programmmacher bieten sich also durchaus Chancen, auf Schleichwegen Gewaltfilme unterzubringen. Nicht zuletzt mit dem Totschlagargument, dass es sich um „Kunst“ handelt. Weil dieses Wort schon vielfach missbraucht wurde, ist es ein weiteres wichtiges Anliegen von „Sichtwechsel“, in eine öffentliche Diskussion über den Kunstbegriff im Zeitalter der audiovisuellen Kommunikation zu treten. Mit diesem Anliegen steht der Verein zum Glück nicht allein. Auch Bundespräsident Johannes Rau formulierte schon ein Jahr vor dem Schulmassaker in Erfurt: „Wo Gewalt verherrlicht wird, dürfen wir uns mit dem falschen Hinweis auf künstlerische Freiheit nicht abspeisen lassen“.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Es geht nicht grundsätzlich darum, Gewalt im Fernsehen auszublenden. Szenen mit abschreckender Wirkung, die einem Plädoyer für die Humanität gleichkommen, haben – darüber sind sich alle einig – einen pädagogischen Wert. Als Beispiele seien zwei Filme angeführt: Anita Killis norwegischer Animationsfilm „Die Dornenhecke“ um zwei Hasenkinder, die der Krieg zu Feinden erklärt, die aber einen Weg finden, die sie voneinander trennende Dornenhecke zu überschreiten. Dem argentinischen Regisseur Marco Bechi gelingen in seinem Spielfilm „Junta“ beklemmende Szenen, ohne Folter und Unmenschlichkeit explizit zu zeigen.
Effiziente Gesetze und TV-Programm fordern
Das Drama, seit Juli im deutschen Kino, spielt zu Zeiten der Militärdiktatur und handelt von vermeintlich „Subversiven“, die von der Geheimpolizei verschleppt und mit Elektroschocks gepeinigt werden. Aufnahmen dunkler und schäbiger Zellen, prägnante, zynische Dialogfetzen und brutale Typen fügen sich zu einem Bild, das den Zuschauer das Grauen ahnen lässt, das sich für ihn unsichtbar hinter Mauern und Türen vollzieht.
Da solche Produktionen allerdings leider nur Ausnahmen in einem Fernsehprogramm sind, das – wie die lettische Regisseurin Leonija Wuss-Mundeciema treffend bemerkt – von „einer Diktatur des schlechten Geschmacks“ beherrscht wird, muss dringend gehandelt werden: Wenn Politiker und Medienvertreter nicht bald effiziente Gesetze und TV-Programme fordern, muss sich keiner wundern, wenn auf die Amokläufe in Erfurt und Coburg weitere folgen.
Der Verein Sichtwechsel e.V. … für gewaltfreie Medien mit Sitz in Berlin ist seit 1995 tätig. Im Verein haben sich Bürgerinnen und Bürger, die über die heutige Medienlandschaft besorgt sind, zusammengeschlossen und die Aufgabe gestellt, die öffentliche Meinung für die notwendige Veränderung des Medienangebotes zu sensibilisieren, damit grundlegend etwas gegen die gehäufte Darstellung von Gewalt in den Medien unternommen werden kann. Gemeinsam mit anderen Initiativen die ihr Engagement ebenso gegen die Gewaltdarstellungen in den Medien richten, will Sichtwechsel e.V. erreichen, dass die Zuschauer, Erwachsene wie Kinder, die Gefahr des Gewaltkonsums für die Entfaltung des Menschen nicht mehr verdrängen. Tausende von Unterschriften hat der Verein nach der Tragödie in Erfurt am 26.4.2002 an die Verantwortlichen für die mediale Gewalt übergeben. Der Verein will bewirken, dass die Etablierung gewaltfreier Fernsehprogramme diskutiert und gefördert – und ein bewussterer Umgang mit den visuellen Medien alltäglich wird.
Weitere Infos: www.sichtwechsel.de