Der Mensch hinter dem @

Betriebsräte der Neuen Medien zwischen Interessenskonflikt und Kooperation

Über die schöne neue Arbeitswelt der sogenannten New Economy ist so viel geschrieben und gesagt worden, dass die Menschen dahinter kaum mehr wieder zu erkennen sind. Dieser Artikel versucht, die Menschen wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Aus der Perspektive von connexx.av beleuchtet er die Besonderheiten der Interessenvertretung in der New Media Branche sowie die Widersprüche und Spannungen, mit denen die Beschäftigten zu kämpfen haben.

Seit 2000 / 2001 steigt bei den Beschäftigten der Neuen Medien das Bedürfnis nach einer Interessenvertretung. Die Gründe sind so einfach wie vielfältig: mehr interne Kommunikation, mehr Prozessbeteiligung, Transparenz, Gerechtigkeit, Demokratie, Mitspracherecht, Absicherung, Zuverlässigkeit und Sicherheit.

connexx.av hat seitdem viele Belegschaften der New Economy bei der Gründung eines Betriebsrats unterstützt. Viele Erkenntnisse und Erfahrungen hat connexx.av dabei gewonnen: Es ist wichtig, dass die Gewerkschaft nicht als „von außen kommend“ wahrgenommen wird: In der Regel gehen einige Beschäftigte voran und connexx.av leistet die Begleitung und Absicherung. Alles, was kommuniziert wird, muss mit den Initiatoren abgesprochen werden. Die Gewerkschaft weiß es nicht immer besser – das ist die wichtigste Grundeinstellung. Darüber hinaus muss den Beschäftigten genügend Zeit zur Diskussion gegeben und viel Aufklärungsarbeit geleistet werden. Bei den verkürzten Wahlverfahren, so bequem sie auch sein mögen, fühlen sich die Mitarbeiter häufig überrumpelt und übergangen. Sie wollen ernst genommen werden, auch und vor allem in ihrer Widersprüchlichkeit, in ihrem Tanz zwischen abhängiger Beschäftigung, individuellem Bedürfnis und unternehmerischem Denken. Daraus erwächst ein hoher Anspruch an die Gewerkschaften, denn diese Beschäftigten reagieren sehr empfindlich, wenn auf ihre Lage mit Schubladen-Konzepten geantwortet wird. Gerade in der New Media Branche sind neue Formen der Mitarbeitervertretung stark gefragt und es dauert, bis Vorurteile abgebaut sind und ein Umdenken stattfindet.

Alternative Gremien

Mit dem Höhepunkt der New Economy und der verstärkten Gründung von Betriebsräten tauchte ein Phänomen in der Branche auf: die „alternative“ Interessenvertretung. Mal sind sie als Gremium organisiert und haben sich ein Statut gegeben, mal sind es Einzelpersonen.

connexx.av arbeitet mit solchen Mitbestimmungsgremien zusammen. Ja, sie haben sich sehr schöne, sehr kreative Namen gegeben, sie reden viel und häufig mit der Geschäftsleitung, sind bei den Beschäftigten anerkannt. Nur Handlungsoptionen haben sie wenige. Verfahren wird nach dem Motto: man kann über alles reden – die Entscheidungen trifft der Arbeitgeber. Die „alternativen“ Mitbestimmungsformen haben keine Möglichkeit, die Interessen der Beschäftigten tatsächlich durchzusetzen oder bei Konflikten eine gleichberechtigte Position einzunehmen.

Trotz allem sind sie ein Anfang, es gehört eine Menge Mut dazu, Mitglied einer solchen Vertretung zu sein – schließlich gibt es keinen verbindlichen, rechtlich abgesicherten Schutz. Letztlich geht es darum, dass die Beschäftigen ihre Interessen wahrnehmen und behaupten. Und der Erfahrung nach verwandeln sich viele im Laufe der Zeit doch noch zum „verstaubten“ Betriebsrat – weil sie ihre Handlungsoptionen vergrößern wollen.

Halbierte Freistellung

Ein Betriebsrat hat ab der Größe von neun Mitgliedern Anspruch auf ein freigestelltes Betriebsratsmitglied. Allerdings taucht in den Unternehmen der New Economy ein Phänomen auf, mit dem der Gesetzgeber wohl kaum gerechnet haben dürfte: Betriebsräte wollen nicht mehr voll freigestellt werden. Sie wollen ihren Job, der ihnen Spaß macht, weiterhin machen. Sie wollen den Anschluss und den Kontakt zu ihren Kollegen nicht verlieren und ihre Karriere im Auge behalten. Daraus folgen zum Teil sehr ungewöhnliche Lösungen: Die halbierte Freistellung zwischen Vorsitzendem und Stellvertreter ist fast üblich, aber es gibt auch die gedrittelte Freistellung. Oder die Betriebsrats-Assistenz geht in die volle Freistellung. Oder die Freistellung wird monatlich neu vergeben.

Diese neue Arbeitsteilung innerhalb der Betriebsräte weist zum einen auf deren verändertes Selbstverständnis hin, zeigt aber zum anderen das ungeheure Potenzial an Mitbestimmungspartizipation. Vorbei scheint die Zeit, in der einzelne Betriebsratsvorsitzende den Weg des Betriebsrates über lange Jahre bestimmten.

Kommunikation ist alles

Kommunikation ist das A und O der Betriebsratsarbeit – gerade in der New Media Branche. Denn ein wesentlicher Grund, warum hier Betriebsräte gegründet werden, liegt in der mangelnden internen Kommunikation. Ein Betriebsrat tritt auch mit dem Versprechen an, diesen Missstand zu beseitigen.

Die Chance, die Betriebsräte in den Neuen Medien haben, sind die einfachen, schnellen Informationswege per E-Mail oder Intranet. Zwar sind sie inzwischen in nahezu allen Unternehmen etabliert, aber Beschäftigte und Betriebsräte der Neuen Medien haben eine besondere Affinität dazu. Bewährt haben sich Newsletter, die direkt nach der Betriebsratssitzung an die Belegschaft verschickt werden. Im Intranet werden Betriebsvereinbarungen zur Diskussion gestellt, über Inhalte abgestimmt, die Belegschaft nimmt unmittelbar an der Entwicklung teil und trägt das Ergebnis mit. Zudem werden Hinweise und Regelungen für das Individualrecht zur Verfügung gestellt, manchmal sogar Chats angeboten.

Schließlich: wenn der Betriebsrat von den Kollegen kritisiert wird, ist das gut und nicht schlecht. Zeigt es doch, dass seine Arbeit wahrgenommen wird und dass eine Auseinandersetzung stattfindet. Jede Kritik gibt dem Betriebsrat die Möglichkeit, sein Handeln zu überdenken, den Kurs zu korrigieren oder seine Argumente für dieses Handeln sorgfältiger zu kommunizieren. Und er kommt kaum in die Versuchung, im luftleeren oder schlimmstenfalls abgehobenen Raum zu schweben.

Hohe Flexibilität

Die sogenannte New Economy hat es vorgemacht, das gesamte Dienstleistungsgewerbe und viele weitere Unternehmen sind nachgezogen: Die Bedürfnisse der Arbeitnehmer verändern sich, Unternehmensleitung und Betriebsräte müssen sich darauf einstellen.

Die Menschen sind selbstbewusst individualisiert, entsprechend wachsen ihre Anforderungen an eine Interessenvertretung. Sie wollen nicht nur mit kollektiven Regelungen beruhigt werden, sie fordern Auseinandersetzung, Gehör, Beachtung und ein Höchstmaß an Flexibilität von ihrem Betriebsrat, der immer häufiger Kollektiv- und Einzelinteressen miteinander vereinbaren muss. Zum Beispiel bei einem Online-Unternehmen, bei dem generell die fünf Tage Woche mit 40 Stunden gilt, viele Kollegen aber lieber vier Tage mit 10 Stunden arbeiten wollen.

Keine starren Regelungen

Ging es vor einigen Jahren mehr oder weniger ausschließlich um die Vermittlung und Verhandlung von Interessenkonflikten entlang relativ scharfer Grenzen, so sind inzwischen zu diesen Auseinandersetzungen noch besondere individuelle Bedürfnisse der Beschäftigten hinzu gekommen. Sie wünschen sich von ihrem Betriebsrat Rahmenbedingungen, keine starren Regeln. Damit wird jede Betriebsvereinbarung – sei es über Arbeitszeit, Urlaub oder Entgelt – zum hochpolitischen Eiertanz. Sie wollen klare Orientierungsgrößen aber gleichzeitig selbst entscheiden, wann und wo sie diese einhalten. Möglichst viel individueller Spielraum mit gleichzeitiger zuverlässiger Basis. Die größte Herausforderung und damit die Königsdisziplin für Betriebsräte ist die Verhandlung über Zielvereinbarungen und / oder Mitarbeiter-Gespräche. Oszillierend zwischen den Anforderungen der Arbeitgeberseite nach Effizienz, Selbstausbeutung, Berechenbarkeit und größtmöglicher Flexibilität und den Ansprüchen der Mitarbeiter nach Kontrollierbarkeit, Fairness, Gleichberechtigung, Effektivität und leistungsadäquater Beurteilung machen sich Betriebsräte auf beiden Seiten häufig keine Freunde.

Erschwerend kommt hinzu, dass Betriebsräte selbst in enormen Schwierigkeiten stecken, wenn ihre Leistung beurteilt und belohnt werden soll. Normalerweise wird die Entlohnung im Gespräch mit dem Vorgesetzten anhand des konkreten Jobs entwickelt, dessen Voraussetzung die 100 %-Verwertbarkeit des Arbeitnehmers ist. Diese erfüllt ein Betriebsrat nicht im eigentlichen Sinne, weil er zwischen 10 und 90 % seiner Arbeitszeit und -kraft für Betriebsratsarbeit benötigt. Er ist für das Unternehmen schwer planbar. In „alten“ Unternehmen war es so geregelt, dass Betriebsräte das Durchschnittsgehalt der Kollegen (inklusive der Gehaltserhöhung) erhalten. Bei Zielvereinbarungen und ohne Gehaltsgruppen ist das nicht mehr möglich. So gibt es diverse Experimente mit dem Durchschnitt des variablen Anteils aller vergleichbaren Kollegen, oder dass die „Nicht-Betriebsrat-Zeit“ nachträglich zu 100 % gesetzt wird mit entsprechenden Zielvereinbarungen. Hier wird noch viel Kreativität der Betriebsräte gefordert sein.

Die Chance nutzen

Daraus folgt, dass sich der Betriebsrat um flexible Rahmenbedingungen streiten muss – nicht mehr um festgefügte Regelungen. Das ist zum Teil nur mit massiven Konflikten möglich, denn Interessenskonflikte bestehen nicht mehr nur als „harte“ zwischen Geschäftsleitung und Belegschaft, sondern auch als „weiche“ zwischen den Kollegen. Hier ist vor allem die soziale Kompetenz von Betriebsräten gefragt.

Diese neue, individualisierte Arbeitskultur, die geprägt ist von der Selbstverantwortung des Einzelnen, der Projektarbeit, der freien Zeiteinteilung, des Erreichens eines Ziels, hat einen ganz entscheidenden Nebeneffekt: die Selbstausbeutung im Interesse des Unternehmens. Es ist zur Management-Methode geworden, die unternehmerische Verantwortung immer weiter nach unten zu delegieren, jeder einzelne ist für das Wohl-und-Wehe verantwortlich und das Risiko wird auf die Beschäftigten abgewälzt. Das fühlt sich erstmal unbestritten gut an, denn wer will heute noch entfremdet arbeiten – aber es stellt sich natürlich die Frage: wofür wird die Geschäftsleitung noch so gut bezahlt und warum macht man sich dann nicht selbstständig? Denn trotz aller Individualisierung und Freiheit in der Arbeit wird ein Grundsatz nicht erschüttert: als Angestellter ist man abhängig beschäftigt und fremdbestimmt. Hier gilt für Betriebsräte, im Auge zu behalten, wo die Grenzen verschwimmen; wann die praktizierte Arbeitsteilung noch gerecht ist; manchmal sogar die Kollegen vor sich selbst zu schützen.

Mit der Arbeitskultur der New Economy sind emanzipatorische Ansprüche der Beschäftigten zu Standards geworden, die aber mit einer Realität konfrontiert werden, die ihren Bedürfnissen noch nicht genügt. Die gesellschaftliche Herausforderung besteht darin, aus dieser Auseinandersetzung Fortschritt zu generieren. Auf allen Ebenen. Denn die Geister, die die New Economy rief, wird diese Gesellschaft nicht mehr los. Und genau das ist ihre Chance.

Katja Karger, connexx.av


Das Projekt connexx.av

connexx.av ist ein Projekt von ver.di in den Zukunftsbranchen der Mediengesellschaft. Gegründet 1999 als Pilotprojekt, um die Beschäftigten und ihre Interessenvertreter im Privaten Rundfunk, Film AV-Produktion und Neue Medien zu betreuen, leistet onnexx.av seitdem Pionierarbeit.

An den fünf Medienstandorten Hamburg, Berlin, Leipzig, Köln und München arbeitet ein Team, das die Medienbranche und ihre Spielregeln als Arbeitnehmer kennt.

Die Projektmanager waren New Media-Spezialistinnen, Betriebsräte, Fernseh- und Filmfachleute, IT-Fachfrauen, Rechtsanwälte, ehemalige Start-up-Mitarbeiter und Radiomacher.

www.connexx-av.de

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