Staat gängelt die Medien durch Bruch des Redaktionsgeheimnisses
Es war die SPD-Fraktion im Bundestag, die im Oktober 1999 einen Gesetzentwurf zur Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter von Presse und Rundfunk sowie zur Ausdehnung des entsprechenden Beschlagnahmeverbots auf selbstrecherchiertes Material in den Bundestag einbrachte.
Es war SPD-Innenminister Otto Schily, der sechs Jahre später den Einmarsch von Polizei und Staatsanwalt in der Redaktion des Magazins Cicero und in die Privatwohnung ihres Mitarbeiters Bruno Schirra rechtfertigte. Wegen angeblicher Beihilfe zum Geheimnisverrat. Das Magazin hatte über vertrauliche Berichte und Analysen des Bundeskriminalamts im Bereich Terror berichtet.
Massive Kritik an diesem Vorgehen – auch aus der eigenen Partei und Fraktion prallte an Schily ab. Als oberster Staatsschützer nahm er für sich das Recht in Anspruch, die „Diskretion im Staat“ auch mit Eingriffen in das Redaktionsgeheimnis durchzusetzen. Schily unternahm nicht einmal den Versuch, den Fall Cicero als Ausrutscher oder Übereifer zu entschuldigen. Schily ist Überzeugungstäter. Der Fall Cicero ist kein Einzelfall. Er ist nur besonders prominent, weil das Blatt bekannt und der Verlag kein unbedeutender ist. Der Zugriff auf die Datenbestände, Dokumente und Aufzeichnungen von Cicero reiht sich dabei in eine Kette von Eingriffen vergleichbarer Qualität ein. In der jüngsten Zeit etwa beim Münchner journalistischen NPD-Beobachter Nikolaus Brauns, bei Redakteuren des Bochumer Internetportals LabourNet und bei Kollegen von anti atom aktuell (aaa). Ein angeblicher Straftatbestand und eine mögliche Beihilfe von Journalisten reichte jeweils als Türöffner aus. Sie zeigen, dass nicht Schily das Problem im Sinne eines einsamen Ausreißers ist. Sie zeigen, dass es in der Exekutive eine insgesamt geringe Hemmschwelle bei Eingriffen in die Pressefreiheit und eine Hemdsärmeligkeit bei der Wahl der Ermittlungsmethoden gibt.
Die Rechtfertigung Schilys offenbart, was in vielen anderen Fällen nicht bewiesen, aber mit hoher Plausibilität vermutet werden kann: Durchsuchungen und Beschlagnahme-Aktionen dienen vielfach nicht der Verfolgung schwerer Straftaten und damit dem Schutz des Rechtsstaats – sie dienen der Ausforschung, sind also Mittel zum diskreten Zweck. „Was denken Sie darüber, wenn wir mal die Redaktion des Szene-Blatts xy durchsuchen“, fragte kürzlich ein Oberstaatsanwalt einen Journalisten. „Im Blatt ist ein Interview mit einem anonymen Graffiti-Sprayer. Die Kenntnis der Person würde uns die Ermittlungen im Komplex Graffiti sehr erleichtern.“ (Die Staatsanwaltschaft verzichtete nach Beratung durch den Journalisten auf die Durchsuchung.) Es geht also im Zweifel um einen pragmatisch „kurzen Dienstweg“ zu Informationen über Quellen der Presse. Der Vertrauensschutz, zu dem der Pressekodex Journalisten und Verleger gegenüber Informanten ausnahmslos verpflichtet, wird dabei zur Strecke gebracht.
Nicht bewiesen, aber vermutet werden kann eine zweite, zumindest billigend in Kauf genommene Wirkung staatlicher Spaziergänge in Redaktionen und Journalistenwohnungen. Sie sollen als Warnung an potenzielle Informanten verstanden werden. Die Botschaft lautet: „Überlegt euch die Weitergabe vertraulicher Informationen zwei Mal. Wir kriegen Euch raus.“ Das ist faktisch Vorzensur. Das hebelt die Wächterrolle der Presse aus. Das reduziert sie auf einen publizistischen Transmissionsriemen für Harmlosigkeiten des Alltags und für die Produkte kommerzieller und politischer PR-Maschinen.
Und wie steht es mit den rechtsstaatlichen Mitteln, übereifrige Staatsanwälte und Minister zurückzupfeifen? Das Landgericht Lüneburg hat die Durchsuchung bei aaa als rechtswidrig verurteilt. Im Nachhinein. Naturgemäß. Das, was die Durchsucher gesehen haben, dürfen sie zwar nicht strafprozessual verwerten. Sie werden es aber nicht vergessen. Sie werden es wie jedes Hintergrundwissen verwenden und mit anderen Informationen verknüpfen. Auch mit jenen, die sie in der Grauzone der Kommunikationsdaten-Ausforschung gewonnen haben. Also: wer schon drin war, kann nicht zurückgepfiffen werden.
Der Schutz der Pressefreiheit als Wesenselement jeder Demokratie und das Redaktionsgeheimnis als Wesenselement einer freien Presse ist kein schmückendes Beiwerk der Verfassung. Sie können nur dann zur Verfassungswirklichkeit und produktiv werden, wenn die Türen zu den Redaktionen für Exekutive und Justiz grundsätzlich geschlossen bleiben.
Ausnahmen bei geplanten oder begangenen Verbrechen gegen Leib und Leben sind dabei nicht ausgeschlossen. Es ist ethisch nicht vorstellbar, dass Journalisten unter Berufung auf das Redaktionsgeheimnis Mörder decken. Solche Ausnahmen und gegebenenfalls freiwillige Absprachen zwischen Medien und Strafverfolgern können nur dann gerechtfertigt sein, wenn andere Mittel nicht zur Verfügung stehen und die Öffnung einer Redaktionstür geeignet, zweckmäßig und notwendig ist.
Die dju in ver.di hat deshalb ausdrücklich die Entscheidung des Bundestagspräsidenten begrüßt, den noch amtierenden Innenausschuss des Bundestages am 13. Oktober (nach Redaktionsschluss) zu einer Sondersitzung einzuberufen, damit sich dieser mit dem „Fall“ Cicero befasst. Es gilt, diese Affäre und ihre Hintergründe schonungslos aufzuklären, die Verantwortlichen zu benennen und die beschlagnahmten Unterlagen unverzüglich zurückzugeben. Die dju erwartet, dass die Abgeordneten aus diesem Anlass den gesetzlich verbrieften Schutz von Pressefreiheit und Informanten sowie das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten bekräftigen und von der Exekutive die strikte Einhaltung der Gesetze einfordern.