Stuttgart 21 im Medienspiegel

Debatte über das Potenzial von Bürgermedien im digitalen Zeitalter

Steigen im Zeitalter digitaler und sozialer Medien die Chancen für kritische Bürgermedien? Um Möglichkeiten und Grenzen solcher Alternativmedien kreiste eine Diskussion in Berlin, die im Januar beim „mediatuesday“ der Tageszeitung geführt wurde. Veranstalterin der Reihe ist die Linke Medienakademie.


Die Auseinandersetzungen um das Bahnprojekt Stuttgart 21 fanden breiten Widerhall in den Medien, wenn auch mit einiger Verspätung. Erst nach dem harten Polizeieinsatz gegen die S21-Gegner am 30. September vergangenen Jahres stiegen die etablierten Medien voll in die Berichterstattung ein. Wie beim Konflikt um die Castor-Transporte spielten aber vor allem die von den Aktivisten selbst geschaffenen Medien eine überragende Rolle bei der Herstellung von Öffentlichkeit.
„Oben bleiben, oben bleiben“ skandierten die S21-Gegner während der Montagsdemonstrationen vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof. „Die etablierten Medien haben das Thema verschlafen, und sind erst aufgewacht, als massenhaft Bürger protestiert haben, als die Bürger massenhaft Leserbriefe schrieben und als viele Leser die Stuttgarter Zeitung oder die Stuttgarter Nachrichten abbestellt haben“, resümierte der Filmemacher und freie Journalist Hermann G. Abmayr. Ähnlich zurückhaltend habe auch der Südwestrundfunk anfangs agiert. Ausgerechnet die Redaktion „Eisenbahnromantik“, die normalerweise Bahnlinien im Schwarzwald oder in fernen Ländern porträtiert, habe eine halbstündige Doku über S21 gedreht und so die öffentlich-rechtliche Informationspflicht eher zufällig erfüllt. Auch Abmayr hat das Thema filmisch aufgearbeitet. Unter dem Titel „Stuttgart steht auf“ stellte er das – wie es im Untertitel heißt – „Porträt einer neuen Demokratiebewegung“ vor. Darin analysiert er auch die Rolle der Medien im Konflikt um das Prestigeprojekt der baden-württembergischen Landesregierung. In diesem Film stellen einige Bürger den regionalen Medien kein gutes Zeugnis aus. Sie werfen ihnen vor, oft einseitig berichtet und die Leser schlecht informiert zu haben.
Der Medienjournalist Daniel Bouhs teilte diese Auffassung. Zum Medienhype um S21 sei es erst gekommen, als „Wutbürger“ und Establishment aufeinanderprallten. Spätestens das beim Polizeieinsatz vom 30. September entstandene Bild des Seniors, der aus den Tränensäcken blutete, habe auch die Boulevardmedien aufgeschreckt. Richtig Angst hätten die politisch Verantwortlichen erst bekommen, als die S21-Aktivisten sich eigene Medien schufen. Erst Recht, nachdem diese Bürgermedien in Untersuchungsausschüssen oder bei den Schlichtungsgesprächen für die vorher vermisste Transparenz gesorgt hätten.
Ob alte oder neue Medien, ob Flugblatt oder Internet – ohne eigene Kommunikationsmittel wäre Stuttgart nie Protesthauptstadt geworden. Neben den traditionellen Protestformen haben die S21-Gegner auch die sozialen Medien für sich entdeckt. Die entsprechende Facebook-Gruppe zählte Mitte Januar bereits rund 100.000 „Freunde“. Ein Reflex auf die Unzufriedenheit vieler engagierter Bürger mit der Berichterstattung der etablierten Medien. Früher hieß es: Was in den Medien nicht vorkommt, findet nicht statt. Heute sind – die Digitaltechnik macht’s möglich – bei jedem Protest Kameras vor Ort, die ohne großen Aufwand das herstellen, was linke Medientheoretiker einst als „Gegenöffentlichkeit“ bezeichneten. So auch in Stuttgart, meinte Filmemacher Abmayr. An erster Stelle nennt er das so genannte „fluegel-tv“, benannt nach dem Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs. Mittels einer gegenüber dem Nordflügel aufgestellten Webcam wurden die Abrissarbeiten minutiös dokumentiert und weltweit im Internet übertragen. Auch die Medieninitiative CAM-S21 übertrug Bilder – etwa von der Besetzung des Südflügels – per UMTS-Funk live ins Netz. Dies geschah mit kleinen Kameras, die von den Aktivisten an Handys angeschlossen wurden.
Gleichwohl sollte das politische Potenzial des Webs nicht überschätzt werden. Als Mittel der Organisation von Protesten gewinnt das Internet zwar massiv an Bedeutung. Als Mittel zur Politisierung und Bewusstseinsbildung taugt es jedoch nur bedingt. Darauf deuten zumindest die Ergebnisse einer Untersuchung der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft am Wissenschaftszentrum Berlin. Weniger als 15 Prozent der befragten 1.500 Stuttgarter Bürger gaben demnach an, erst durch S21 politisiert worden zu sein. Demnach hatten vier von fünf Bürgern bereits vorher Protesterfahrungen gesammelt. „Als Mobilisierungsinstrument werden die neuen sozialen Medien immer wichtiger“, erklärte Projektmanagerin Britta Baumgarten. Als Musterbeispiel gelten ihr die Proteste im Wendland. „Dort wurde wirklich mit Twitter durchgegeben, wann der Transport welche Dörfer passiert hat, in welchen Camps noch Lebensmittel benötigt werden und solche Geschichten“.
Hermann Abmayr glaubt an eine Wechselwirkung zwischen politischen Bewegungen und Neuen Medien. Dabei geht er medienhistorisch einige Jahrzehnte in die Hochzeit der Anti-AKW-Bewegung in Baden-Württemberg zurück. In den siebziger Jahren seien die Freien Radios im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um das Atomkraftwerk Wyhl entstanden. Jetzt habe die Bürgerbewegung Medien wie fluegel-tv oder CAM-S21 geschaffen. Diese Medien seien wichtig, allerdings nur, solange sie mit politischen Inhalten gefüllt werden könnten. „Ohne die Bereitschaft zum Protest, ohne den Widerstand der Bürger hätten diese Medien natürlich keine Funktion.“

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