Erwartungen enttäuscht

Türkei: Bedrohung von Journalisten auch nach der Strafrechtsreform

Seit Jahren drängt die Türkei auf einen Beitritt zur Europäischen Union. Eines der größten Hemmnisse war das Strafrecht. Bis vor kurzem noch enthielt die 79 Jahre alte Fassung dieses Gesetzbuches Paragraphen, die einer westliche Auffassung von Menschenrechten diametral entgegenstand. Eine Überarbeitung war daher von Brüssel als Grundbedingung für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen genannt worden.

Bis das Strafrecht Anfang Juni schließlich novelliert wurde, mussten die EU-Befürworter um Ministerpräsident Tayyip Erdogan jedoch zwei maßgebliche Hürden überwinden. Zum einen galt es, die Widerstände gegen rückwärtsgewandte Gesellschaftsauffassungen zurückzudrängen. Beispielhaft dafür war die Debatte um die Wiederaufnahme einer strafrechtlichen Ahndung ehelicher Untreue. Zudem musste sich die politische Führung des Landes gegen die autoritäre Linie des nach wie vor einflussreichen Militärs durchsetzen. Dies ist nur zum Teil gelungen. Nach wie vor drohen Journalisten in der Türkei bei einer kritischen Haltung zu den staatlichen Institutionen Gefängnisstrafen.

Menschenrechtsorganisationen und Journalistenverbände bezeichnen die Reform daher als unzureichend. Dabei hatte schon der Entwurf für die Gesetznovelle empörte Proteste ausgelöst. Wer gegen das „Wohl der Nation“ handle, hieß es darin, müsse fortan mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren rechnen (Paragraph 305). Als Beispiele für eine Erfüllung des Tatbestands waren im ersten Entwurf des neuen Strafrechtes auch die Aufforderung zum türkischen Rückzug aus Zypern oder die Debatte um einen Genozid an den Armeniern vor 90 Jahren genannt worden. Verständlich also, dass sich besonders Journalisten bedroht fühlten. Von der Strafandrohung sind auch ausländische Korrespondenten betroffen, weil der Paragraph explizit „in der Türkei befindliche ausländische Staatsangehörige“ einschließt. Zunächst schien es, dass der Protest Wirkung zeigt. Ministerpräsident Erdogan verschob das Inkrafttreten des neuen Strafrechts von April auf Juni, die strittigen Passagen sollten bis dahin überarbeitet werden.

Dennoch blieb alles weitgehend beim alten. Zwar wurden eine Reihe besonderer Strafverschärfungen für die Presse gestrichen – bei Paragraph 299 zur Beleidigung des Staatspräsidenten etwa. Doch Paragraph 305 und andere Regelungen zur potentiellen Einschränkung der Pressefreiheit blieben bestehen. Das 1997 gegründete unabhängige türkische Mediennetzwerk BIAnet hatte noch kurz vor der Verabschiedung der Strafrechtsreform auf eine anhaltende Repression gegen Pressevertreter durch die türkischen Sicherheitsorgane hingewiesen. In der Jahresbilanz für 2004 verzeichnet BIAnet noch 115 Verfahren gegen Medienschaffende. Von April bis Juni dann waren es allein 53 Verfahren. „Das neue Strafrecht hat die Bedrohung für Journalisten erhöht“, beklagt BIAnet-Mitarbeiter Erol Öndero_lu. Dabei hätten Journalisten nach einer positiven Novelle des Pressegesetzes darauf gehofft, wegen der Ausübung ihres Berufen künftig nicht mehr mit Gefängnisstrafen bedroht zu werden. „Diese Erwartung ist enttäuscht worden“, sagt Öndero_lu.

Auch Amke Dietert, Türkeiexpertin bei der deutschen Vertretung von amnesty international, sieht nur einen teilweisen Fortschritt in dem neuen türkischen Strafrecht. Natürlich habe die Reform „eine Reihe positiver Dinge“ mit sich gebracht, etwa die strafrechtliche Ahndung von häuslicher Gewalt und sexuellen Übergriffen gegen Frauen. Bei der Meinungsfreiheit sieht sie aber nach wie vor Defizite. In den wesentlichen Punkten seien die für Medien kritischen Paragraphen beibehalten worden. „Einzig die Strafverschärfungen für die Verbreitung inkriminierter Meinungsäußerungen in den Medien sind teilweise zurückgenommen worden“, sagte die ai-Mitarbeiterin. „Die EU-Kommission muss im Zuge der Beitrittsverhandlungen konsequent die Beseitigung der noch bestehenden Menschenrechtsprobleme einfordern. Das gilt sowohl für die Defizite im Bereich der Meinungsfreiheit als auch für die nach wie vor weit verbreitete Praxis der Folter.“

 

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