Tunesien: Nach Sturz des Präsidenten sortieren sich die Medien neu
Noch ist nicht absehbar, wie sich Tunesien künftig entwickeln wird. Mit dem Sturz von Alleinherrscher Zine el-Abedine Ben Ali bieten sich den Medien aber völlig neue Möglichkeiten. Oppositionelle und Journalisten konnten im Januar erstmals nach mehr als 23 Jahren frei ihre Meinung äußern; inhaftierte Medienvertreter kamen frei. Internationale Journalistenorganisationen sind vorsichtig optimistisch.
Für Fahem Boukadous öffneten sich am 19.Januar 2011 die Gefängnistore. Der Fernsehjournalist hatte es 2008 gewagt, in dem autoritär regierten Tunesien über Proteste von Arbeitern in der Minenregion Gafsa zu berichten. Wegen angeblicher „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ verurteilten die Richter ihn im Juli 2010 endgültig zu vier Jahren Freiheitsentzug.
18 Monate später war das Urteil hinfällig. Präsident Ben Ali setzte sich nach 23 Jahren an der Macht nach Saudi-Arabien ab, nachdem es im Land wochenlang Proteste gegen seine Politik und gegen die Hoffnungslosigkeit der Jugend gegeben hatte. Danach ging alles schnell: Die Übergangsregierung von Ministerpräsident Mohammed Ghannouchi ließ die politischen Gefangenen frei, versprach Meinungs- und Pressefreiheit und erlaubte die unzensierte Einfuhr ausländischer Zeitungen, Bücher und elektronischer Medien.
Das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) jubelte. „In den Verliesen der tunesischen Regierung sind kein Journalist und kein Blogger mehr inhaftiert“, sagt der Nordafrika-Experte der Organisation, Mohamed Abdel Dayem. Vor Fahem Boukadous waren schon ein Rundfunkjournalist, ein Zeitungskollege und mehrere Internet-Autoren aus der Haft entlassen worden. Auch Hamma Hamami, der frühere Redakteur der unter Ben Ali verbotenen Zeitung Alternatives und Vorsitzender der Kommunistischen Arbeiterpartei Tunesiens, kam auf freien Fuß.
Andere Journalisten kehrten aus dem Exil zurück. „Das wäre vor Wochen undenkbar gewesen“, betont Anja Viohl von den „Reportern ohne Grenzen“ (ROG). Sihem Bensedrine, die zwischenzeitlich auch in Deutschland gelebt hatte, packte ihre Koffer in Barcelona. In Tunesien angekommen warnte sie umgehend, dass ein Neuanfang nur mit einer neuen Verfassung und neuen Mediengesetzen funktionieren könne. Sie weiß, wovon sie spricht: Bensedrine war in Tunesien wegen ihrer journalistischen Arbeit für das Online-Magazin „Kalima“ seit 2001 Schikanen und Übergriffen ausgesetzt. Sie wurde inhaftiert, bedroht und zusammengeschlagen, bis sie schließlich aus Angst um ihr Leben das Land verließ. „Wir brauchen jetzt die Unterstützung Europas“, unterstreicht sie. Zugleich kritisiert Benserine, dass die Europäische Union das gestürzte Regime so lange stützte. In der Tat war Ben Ali trotz der brutalen Unterdrückung Andersdenkender in der EU wohlgelitten, weil er wirtschaftlich mit der Union zusammenarbeitete, die Islamisten von der Macht fernhielt und afrikanische Flüchtlinge nicht nach Europa durchließ.
Unsicherheit in den Redaktionen
In vielen Redaktionen weiß man noch gar nicht, wie man künftig arbeiten wird. Die gegenwärtige Unsicherheit der tunesischen Medien wird vor allem am Beispiel der Zeitung La Presse deutlich. Das Blatt war so etwas wie das Sprachrohr Ben Alis und suchte Ende Januar noch nach einem neuen Kurs. Auf Konferenzen berieten die Journalisten über den Umgang mit der neuen Freiheit. Auch Selbstkritik wurde laut. La Presse-Redakteurin Nadja Chamed sagte dem Sender „3Sat“: „Man hat uns früher immer gesagt, was wir schreiben sollen. Ehrlich gesagt, ist unser kritischer Verstand dabei ziemlich auf der Strecke geblieben.“
„Mit jedem Tag, an dem die neue Freiheit ausprobiert wird, ist es unwahrscheinlicher, dass die Entwicklung zurückgedreht werden kann“, meint Anja Viohl von ROG. Auch wenn sie das System Ben Ali für abgeschlossen hält, warnt sie vor möglichen Rückschlägen. „Wir werden genau hinschauen, was die Übergangsregierung macht, wie die Wahlen ablaufen und ob die früheren Menschenrechtsverletzungen untersucht und bestraft werden.“ Die Befürchtungen sind nicht ganz unbegründet, denn nicht nur die bisherigen Machthaber, sondern auch Islamisten oder Staaten wie der Iran und Saudi-Arabien beobachten genau, was derzeit in Tunesien passiert und versuchen, ihren Einfluss zu sichern. Dass deren Ziele Aufbruch und Meinungsfreiheit heißen, darf getrost ausgeschlossen werden.
Für den Wandel mussten Oppositionelle, Menschenrechtler und kritische Journalisten viele Opfer bringen. Auch noch während der jüngsten Proteste wurden Demonstranten niedergeprügelt, Menschen inhaftiert und Journalisten an ihrer Arbeit gehindert. Der deutsch-französische Fotograf Lucas Mebrouk Dolega (Bild) musste das sogar mit dem Leben bezahlen. Der 32-jährige Mitarbeiter der Fotoagentur „European Press Photo Agency“, ein Kooperationspartner der dpa, wurde am 14. Januar aus nächster Nähe vom Schuss aus einer Tränengasgranate im Gesicht getroffen. Drei Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen.