Erste Eindrücke eines Ex-Bonners in Berlin
- In Berlin wird alles anders“, sagen manche Ressortleiter in den Zentralredaktionen. „Eure Bonner Gewohnheiten müßt Ihr jetzt ablegen“, raten Kolleginnen und Kollegen in Berlin. „Aus Berliner Sicht stellt sich die Politik ganz anders dar“, wissen die Chefredakteure. Und manche schwafeln von einer „Berliner Republik“.
Der große Umzug rollt vom Rhein an die Spree. Aus der Provinz in die Weltstadt. Mindestens tausend in- und ausländische Journalistinnen und Journalisten, dazu Kameraleute und Techniker, wechseln den Arbeitsort. „Lausitzer Rundschau“ und „Frankfurter Rundschau“, die Deutsche Presse-Agentur und die spanische EFE, die „Münchner Abendzeitung“ und der „Corriere della Sera“, „Handelsblatt“ und „Wall Street Journal“, „Milliyet“ und „Aftenposten“, das japanische Fernsehen und der chilenische Rundfunk – alle versetzen ihre Bonner Korrespondentinnen und Korrespondenten und verlegen ihre Hauptstadtredaktionen 600 Kilometer nach Osten.
- Weht nun ein neuer Wind? Viele wünschen: „Endlich kommt Ihr mal heraus aus Eurem Bonner Mief.“ Immer war die Rede von der „Käseglocke“ oder vom „Raumschiff“ – Bonn als abgekapselter, abgehobener, sich selbst reproduzierender Binnenbetrieb. Das soll nun anders werden: In Berlin, so heißt es, würden wir Rheinländer endlich mit den sozialen Kontrasten konfrontiert und knallhart dem Ost-West-Gegensatz ausgesetzt. Wir müßten uns einer höherklassigen öffentlichen Kritik stellen. Und überhaupt: Das pralle Leben und Kultur satt…
In Bonn wohnte ich in der beschaulichen Südstadt, einem bürgerlichen, ruhigen Stadtviertel, wo ich abends viele von denen traf, mit denen ich beruflich tags zu tun hatte. Ich arbeitete im Pressehaus am Tulpenfeld, wo sich Politik und Publizistik auf engem Raum konzentrierten. In Berlin wohne ich in Friedrichshain, einem sich rasant verändernden Stadtbezirk mit sichtbarer sozialer Asymmetrie, und ich arbeite in einer wunderhübsch restaurierten Stadtvilla schräg gegenüber dem Deutschen Theater, mit Blick auf einen Innenhof.
- Nicht nur die aus Bonn Zuziehenden, auch schon länger hier arbeitende Kolleginnen und Kollegen treffen sich gern in drei oder vier Lokalen, wo auch Parteiangestellte, Beamte und Lobbyisten einkehren. „Da sind wir ja wieder“ oder „Immer dieselben“, rufen sie sich zu. Andere haben sich schon einen Italiener als Stammrestaurant ausgeguckt, der sich mitten im Berliner Presseviertel zwischen der Straße Unter den Linden, dem Schiffbauerdamm und der Reinhardtstraße angesiedelt hat. Hier wurde auch schon mancher Halb-Prominente gesichtet wie etwa der FDP-Chef Wolfgang Gerhardt. Kontakte zur Bevölkerung? Soziale Realität? Arbeitslose Ostdeutsche, obdachlose Sozialhilfeempfänger oder ausländische Mitbürger ohne Doppelpaß habe ich hier bisher ebenso wenig entdecken können wie in den Bonner Südstadtkneipen.
Viele Bonner Beamte pendeln noch, weil ihre Familien erst später oder gar nicht umziehen. Ihnen entgeht die Berliner Wirklichkeit, die sie nur als chaotische Baustelle oder als unvollkommenen Büro-Arbeitsplatz erleben. Die meisten Bundestagsabgeordneten werden ebenso wie in Bonn nur in den Sitzungswochen am Montag oder Dienstag anreisen und spätestens Freitag mittag wieder verschwinden. Dazwischen liegen Termine, Sitzungen, Besprechungen. An freien Abenden hockten sie in Bonn in der exklusiven Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft zusammen, in Berlin ist ein ähnlicher Club für sie eingerichtet, hier hat er nur einen üppigeren Namen: Reichstagspräsidentenpalais.
- Die Damen und Herren Volksvertreter werden also voraussichtlich wenig von Berlin wahrnehmen. „Ich bin von den Leuten in meinem Wahlkreis gewählt, nicht in Zehlendorf oder in Pankow“, sagt in wohltuender Offenheit ein bayerischer CSU-Abgeordneter, den ich in einer der erwähnten Gaststätten traf.
Was er ausdrückt, wird das Politik- und Medienleben in Berlin prägen. Natürlich werden sich Einflüsse und Auswüchse dieser aufgewühlten Stadt nicht ausblenden lassen. Für uns Journalisten gilt aber: Wer den Alltag in Bonn nicht sehen wollte, wird ihn auch in Berlin nicht wahrhaben. Schließlich bestimmt in anderen Metropolen, die soziale Brennpunkte sind, wie Washington, Paris oder Tokio, auch nicht das soziale Geschehen die Berichterstattung der Hauptstadt-Korrespondenten. Wir bilden das politische Geschehen ab, wie es sich im Parlament, in Regierung, Parteien und Verbänden oder anhand von Personen ablesen läßt, und wir haben die Entscheidungsprozesse durchschaubarer zu machen.
- Wird für uns Ex-Bonner-Journalisten also alles bleiben wie es war? Wird Klein-Bonn nur nach Groß-Berlin transplantiert? Nein. Die Zeit im übersichtlichen Bonn, wo wir den SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck, die CDU-Generalsekretärin Angela Merkel oder die Grünen-Abgeordnete Claudia Roth an der Straßenecke treffen konnten, um zu fragen, was denn so los war im Kabinett, im Vorstand oder im Ausschuß, ist vorüber. Ein neuer Stil des Umgangs und der Kommunikation wird sich herausbilden. Berlin wird ungemütlicher, aber aufrüttelnd. Berlin ist voller Bewegung, und sie wird übergreifen. Das kann uns nur guttun.