Vielfalt erhalten

Mahnwachen und Demonstration in Bremen und Saarbrücken

Donnerstag, 11. November 1999, 9 Uhr, neben dem Seiteneingang des alten Bremer Rathauses, Kolleginnen und Kollegen von Radio Bremen richten zusammen mit 10 Kolleginnen und Kollegen des Saarländischen Rundfunks eine Mahnwache ein. In den nächsten zwei Tagen wollen die Ministerpräsidenten der Länder endgültig über den Gebührenfinanzausgleich zwischen den ARD Anstalten entscheiden.

Auf dem Tisch liegt eine Empfehlung der Rundfunkkommission der Länder vom 15. Oktober 1999, ab 1. 1. 2001 die Finanzausgleichssumme für Radio Bremen, den Sender Freies Berlin und den Saarländischen Rundfunk von 2 Prozent auf 1,9 Prozent des ARD Netto-Gebührenaufkommens abzusenken und bis zum 31. 12. 2006 auf 1 Prozent linear abzuschmelzen (siehe M 11/99). Der SR-Intendant Fritz Raff und der neue RB Intendant Heinz Glässgen haben bereits deutlich gemacht, daß, sollten die Ministerpräsidenten der Länder die-ser Empfehlung folgen, mit Programmreduzierung und drastischen Abbau des Personals in beiden Sendern gerechnet werden muß.

Kein Wunder, daß es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Radio Bremen und die Delegation vom Saarländischen Rundfunk auf die Straße treibt. Das mitgeführte Transparent schreibt den Ministerpräsidenten deutlich ins Stammbuch, was sie denken: „ARD-Vielfalt erhalten ? Politiker vernichten Arbeitsplätze“.

Noch während des Aufbaus trifft Ministerpräsident Edmund Stoiber ein. Sofort ist er von dem anwesenden Pressetross umringt. Nach drei, vier in die Kameras gesprochenen Sätzen verschwindet er im Seiteneingang des Rathauses. Keine Chance für die Teilnehmer der Mahnwache, ein Wort mit ihm zu wechseln. Aber was soll’s, jeder weiß, daß er, seitdem er zusammen mit seinen Kollegen aus Sachsen und Baden-Württemberg den Angriff auf die Vielfalt der ARD gestartet hat, die kleinen Sender durch Fusion mit anderen von der Bildfläche verschwinden lassen will. Die anderen Ministerpräsidenten lassen noch auf sich warten, das nutzt der gastgebende Ministerpräsident Henning Scherf, um zur Mahnwache zu gehen, lächelnd ein paar Hände zu schütteln und Small Talk zu machen. Zur Sache sagt er natürlich nichts, außer man werde wohl heute entscheiden. Auch der neue Ministerpräsident des Saarlandes, Peter Müller, kommt zur Mahnwache, um Hände zu schütteln.

Draußen geben Teilnehmer der Mahnwache Statements für die Presse in Kameras und Dat-Recorder. Daß irgend etwas davon veröffentlicht wird, glaubt zu diesem Zeitpunkt auf Grund der Erfahrungen in der Vergangenheit kaum einer. Beim Kontakt mit den vorbeikommenden Passanten wird deutlich, daß sie das Problem, um das es uns geht, kaum verstehen. Warum auch, die Bewahrung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in seiner Vielfalt und die Bedeutung des Erhalts der Arbeitsplätze wurde bisher weitgehend nur unter Insidern diskutiert.

Ministerpräsidenten spielen Ball an die Intendanten zurück

Die Entscheidung der Ministerpräsidenten fällt dann erst am nächsten Tag. Sie folgen im wesentlichen der Empfehlung der Rundfunkkommission, ziehen die Abschmelzung auf 1 Prozent sogar um ein Jahr auf den 31. 12. 2005 vor. Aber sie ergänzen sie um zwei Protokollerklärungen: 1. „Die Regierungschefs der Länder gehen davon aus, daß die ARD einvernehmlich den internen Leistungs- und Gegenleistungsaustausch zugunsten der Funktionsfähigkeit der kleinen Anstalten gestaltet, einschließlich einer Neuregelung des Fernsehvertragsschlüssels. Er soll der Abfederung der Folgen des reduzierten Finanzausgleichs für die Finanzausgleichempfänger dienen“. 2. Die Realisierung der vorstehenden Protokollerklärung der Regierungschefs der Länder ist für die Regierungschefs des Saarlandes und Bremens die Geschäftsgrundlage ihrer Zustimmung (Anm. Die Zustimmung der Ministerpräsidenten muß einstimmig erfolgen) zu dem Beschluß der Ministerpräsidenten. Am Abend sagt der Ministerpräsident von NRW, Wolfgang Clement, in einem Interview mit Radio Bremen: „Um es klar zu sagen. Es darf natürlich nicht zu betriebsbedingten Kündigungen irgendwo kommen.“ (Da hat er wohl die Deutsche Welle vergessen, der Staatsminister Naumann auch 80 Millionen gestrichen hat. KPH))

Der Ball ist also von den Ministerpräsidenten geschickt an die ARD zurückgespielt worden. Sie haben ihr nächstes Treffen vom 22. bis 24. November in Saarbrücken, und den IG-Medien-Kolleginnen und -Kollegen von der Mahnwache in Bremen ist sofort klar, da müssen wir auch präsent sein. Und das sind wir dann auch.

Montag, 22. November 1999, 9 Uhr, Saarländischer Rundfunk

Vor dem Schloß, in dem die ARD-Intendanten die nächsten drei Tage beraten werden, wie es nach dem Minsterpräsidentenbeschluß in Bremen weitergeht, wird die nächste Mahnwache aufgebaut. Gleichzeitig formieren sich in dichtem Schneegestöber mehr als 300 SR-Beschäftigte zu einer Menschenkette auf der einzigen Zufahrt den Hallberg hinunter, um den anreisenden Intendanten der ARD zu signalisieren, daß jetzt ihre Solidarität untereinander gefordert ist. Vor dem Schloß steht ein Empfangskomitee von Gewerkschaftskolleginnen und Kollegen von Radio Bremen und anderen ARD-Anstalten. Vertreterinnen und Vertreter des DGB Saarbrücken, der Postgewerkschaft, der ÖTV und sogar der Polizeigewerkschaft sind auch mit dabei. Allen nun in den nächsten anderthalb Stunden eintreffenden Intendanten wird mit einem Anschreiben persönlich ein vom außerordentlichen Gewerkschaftstag einstimmig beschlossener Initiativantrag übergeben in dem es u.a. heißt: „Die IG Medien fordert deshalb die Intendanten der ARD auf, der ihnen von den Ministerpräsidenten übertragenen Verantwortung für den Erhalt und die Funktionsfähigkeit von Radio Bremen und dem Saarländischen Rundfunk, dem Sender Freies Berlin und dem Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg, insbesondere zur Sicherung der bestehenden Beschäftigungsverhältnisse gerecht zu werden … Die bestehende föderale Vielfalt ist einer der Eckpfeiler der ARD. Die IG Medien bleibt bei ihrer Forderung der bedarfsgerechten Finanzierung aller Landesrundfunkanstalten.“

Der ARD-Vorsitzende Peter Voss, Intendant des SWR, und der BR-Intendant Albert Scharf wirken irritiert. Der „reichste“ Intendant – des WDR – , Fritz Pleitgen, gibt sich als erfahrener Journalist zuversichtlich und ist auch nicht durch die Bemerkung, ob er seinen Geldkoffer dabei habe, aus der Ruhe zu bringen. Fritz Raff, Intendant des SR und der neue Intendant von Radio Bremen, Heinz Glässgen können kaum ihre Freude über das Engagement ihrer Mitarbeiter verbergen. Udo Reiter, Intendant des MDR, wirkt ebenfalls etwas verunsichert. Er war es schließlich, der mit anderen der „reichen“ ARD-Intendanten unter dem Druck der Politiker den Abschmelzungsvorschlag von 2 Prozent auf 1 Prozent des Finanzausgleichs ins Gespräch gebracht hatte. Hans Rosenbauer, Intendant des ORB, vermißt das Engagement für seinen Sender, denn inzwischen ist bekannt, daß auch der ORB ein Kandidat für den Finanzausgleich ist. Erst ein Blick in den Beschluß des Gewerkschaftstags der IG Medien zeigt ihm, daß die IG Medien dies längst erkannt hat.

10 Uhr 30, die Menschenkette löst sich auf und kommt zur Abschlußkundgebung. Ein paar Abschlußreden und Beifall. Das war es?

Das war es nicht. Die Reaktionen der Beschäftigten bei Radio Bremen und dem Saarländischen Rundfunk zeigen deutlich, daß sie es gut finden, daß die IG Medien den Anstoß gegeben hat, mehr zu tun, als nur Briefe zu schreiben, Protestresolutionen zu verfassen und Thesenpapiere zu überreichen. Die Mahnwache ging übrigens weiter, bis zur Enscheidung der Intendanten am nächsten Tag, Radio Bremen und dem Saarländischen Rundfunk mit einer Entlastung von DM 20 Millionen ihres Anteils an den ARD-Gemeinschaftsaufgaben unter die Arme zu greifen. Im Sinne der Vielfalt sind sie der Empfehlung der Ministerpräsidenten, den Fernsehvertragsschlüssel zu ändern, auch nicht gefolgt.


  • Klaus-Peter Hellmich
    1. Specher der Fachgruppe Rundfunk/Film/AV-Medien

 

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