Der plötzliche Erfolg der Doku-Soaps
Noch vor einem Jahr haben kaum die Fernsehkritiker gewusst, was das sein soll: eine Doku-Soap. Jetzt ist das Genre schon mit einem Grimme-Preis für „Abnehmen in EssenÓ in den Adelsstand erhoben worden. Selten hat ein neues Fernseh-Format so schnell einen festen Programmplatz erobert. Inzwischen laufen innerhalb einer Woche mehrere Doku-Soaps auf verschiedenen Kanälen.
Es ist, als sei der große Boom in Sachen Alltag ausgebrochen, ein massiver Einbruch von Wirklichkeit in das Medium Fernsehen. Inzwischen haben Doku-Soaps Einblicke in viele Orte eröffnet. Ins Getriebe des Flughafens Frankfurt, in die Geburtsstation des Virchow-Krankenhauses in Berlin, zu den Angestellten der Galerie Lafayette in Paris. In eine Behindertenwohngruppe und zu den Angestellten beim Münchner Feinkost-Käfer. Diese Doku-Soap hieß „Der wahre Kir Royal“ und war die erste namentlich so benannte Doku-Soap, mit der der Boom im Januar 1999 begann. Zu sehen waren Hochzei-ter bei ihren Vorbereitungen, Langzeitarbeitslose bei der Suche nach einem Job, Taubenzüchter im Ruhrgebiet und Abgeordnete beim Umzug nach Berlin. Demnächst trifft man „Mini-Kicker“ auf dem Kinderkanal, die dicken Frauen aus Essen beim zweiten Versuch und Doris Grinda, die in der „Fahrschule“ mit 141 Fahrstunden ihre Fahrlehrer zur Verzweiflung brachte.
Das Genre Doku-Soap ist jedenfalls nicht zu übersehen und es lohnt sich, Fragen zu stellen. Was hat es mit diesem Genre auf sich? Können die Dokumentaristen Hoffnung schöpfen, über dieses Vehikel auch wieder zu Sendezeiten zur Primetime zu kommen?
Erfunden wurde die Doku-Soap vor einigen Jahren in England. Sie hat dort zeitweise bis zu zehn Millionen Zuschauer gefunden. Ein Moment des Erfolgs war sicher, dass auch die britischen Boulevard-Blätter mitzogen – bewegen sich doch beide auf ähnlichem Terrain. Inzwischen ist das Interesse des Publikums jedoch etwas abgeflaut.
Im deutschen Fernsehen kam die Doku-Soap zunächst nicht über den Boulevard. Zwar haben die Kommerzsender einige britische Vorbilder kopiert. Wirklich engagiert hat sich aber überraschenderweise Arte. In Strassburg hat man aus der Doku-Soap gleich eine Programmphilosophie gemacht und sendet fast in jedem Monat einen Vierteiler, mal von deutschen, mal von französischen Autoren. Allerdings hat der Sender auch wegen seiner gespaltenen Zuschauerschaft programmtechnisches Interesse. Für die Deutschen beginnt der Fernsehabend um Acht mit der Tagesschau, für die Franzosen eine Dreiviertelstunde bis Stunde später. Die Doku-Soap soll diesen Raum füllen.
Bei Arte verbindet sich mit dem Genre die Hoffnung, damit auch den Spielraum für das Dokumentarische insgesamt zu erweitern. Kann die Verknüpfung mit den vertrauten Handlungs-Mustern der Serie dem Dokumentarischen neue Zuschauer zuführen? Was ist der Gewinn bei dieser Kuppelei? Und welcher Preis ist dafür zu bezahlen?
Dabei ist der Begriff der Doku-Soap, der als Etikett auf dokumentarische oder pseudodokumentarische Mehrteiler geklebt wird, eher hinderlich. Zu verschieden sind die Produkte, in ihrer Absicht ebenso wie in ihrer Ästhetik, in den Produktionsbedingungen ebenso wie in der Realisierung. Zwischen streng dokumentarischer Arbeit auf der einen und TV-Comedies mit Laiendarstellern gibt es viele Möglichkeiten.
Die Struktur
Nimmt man die Form ernst und untersucht sie nach ihren strukturellen Eigenschaften, lassen sich Gemeinsamkeiten und Spielarten genauer einordnen. Doku-Soaps sind die bewusst gesuchte Verbindung von dokumentarischem Erzählen und serieller Dramaturgie, wie sie in der fiktiven Fernseh-Serie entwickelt wurde. Sie konzentrieren sich nicht, wie oft im klassischen Dokumentarfilm, auf eine Person, sondern stets auf mehrere Personen. Sie haben einen Grundbestand an Personen, die in jeder Folge wieder vorgestellt werden müssen. Deren Geschichten werden häufig parallell montiert und erzählt – bis hin zu patchworkartigen Erzählweisen. Die einzelnen Handlungstränge werden in dramaturgische Spannungsbögen gesetzt. Cliffhanger werden gesetzt, um auf die nächste Folge hinzulenken. Die Geschichten folgen häufig einer Ereignisdramaturgie, einer Abfolge von Höhepunkten. Einheit von Zeit und/oder Ort sind nach den bisherigen Erfahrungen wichtig.
Zentral ist natürlich die Konzentration auf das Erzählen. Die Doku-Soap setzt auf den erzählenden, den narrativen Dokumentarfilm noch eines drauf. Das wichtigste an ihr ist und bleibt der Plot, die Handlung. Was in einer Doku-Soap passiert, muss in die serielle Dramaturgie passen. Die Erzählstruktur wird über den Stoff gelegt, der Stoff hat sich dieser Struktur anzupassen.
Anders als der analytische oder distanziert beobachtende Dokumentarfilm setzt die Doku-Soap vor allem auf Emotionen und auf Identifikation mit den Personen. Sie stehen unbedingt im Vordergrund. Sie sind keine Schauspieler, aber sie agieren nicht selten wie Schauspieler – zumal sie ja in einer seriellen Struktur Rollen zu erfüllen haben. Deshalb werden sie auch Selbstdarsteller genannt oder notfalls „Darsteller“. Sie zu finden und auszuwählen, wird mit dem gleichen Begriff bezeichnet wie beim Spielfilm: nämlich „casten“. Selbstdarsteller sind gesucht. Man wird aus den gleichen Gründen in Doku-Soaps auch häufig theatralische und dramatische Situationen finden.
In jedem Fall steht der Unterhaltungswert im Vordergrund. Doku-Soaps versprechen auch, unterhaltsamer zu sein als so manche spröde Dokumentation. Und sie versprechen Authentizität: Echte Menschen mit echten Geschichten. Wie das Leben so spielt.
Dabei profitiert die Doku-Soap von einem gewachsenem Interesse am Dokumentarischen und am Alltag. Dieses Interesse hängt wohl auf eine vertrackte Weise mit einer Welt zusammen, die sich dem Einzelnen sonst immer mehr entzieht. Viele sind zu permanenten Wechseln in Job und in Lebensstil gezwungen. Der individualisierte Kapitalismus erzeugt den „flexiblen Menschen“, wie Richard Sennett das genannt hat, einen Menschen, den der Wunsch nach Selbstversicherung umtreibt. Der vielleicht mehr als je zuvor sich vergleichen muss und etwas wissen will davon, wie andere leben und wie sie mit all dem fertig werden. Das wäre das Interesse am Alltag. Aber: es muss so aussehen wie im Fernsehen.
Das Handwerk
Das bedeutet aber auch: die Doku-Soap, als seriöse Möglichkeit des dokumentarischen Erzählens verstanden, verlangt ein anderes Handwerk. Die Arbeit muss arbeitsteilig vor sich gehen, etwa wenn Dreh und Schnitt parallell laufen müssen. Die Aufgabe der Kamera verlagert sich mehr dahin, Bilder und Szenen zu sammeln und zu erjagen; die eigentliche Konstruktion des Films erfolgt am Schneidetisch. Der Filmschnitt wird das zentrale Instrument, möglich auch erst durch die Digitalisierung. Da die erzählerische Komponente stark ist, zugleich die Erzählung aber über die Protagonisten vorangetrieben wird, kommt auch dem Ton viel stärkere Bedeutung zu. Es sollte niemand glauben, gut gemachte Doku-Soaps seien eine billige Programmform. Der Aufwand kann, je nach Sujet, enorm sein.
Das zentrale Moment bleiben die Menschen. Auch hier ist das Terrain bereitet. Viele haben nichts mehr dagegen, gefilmt zu werden, sie wollen sogar unbedingt im Fernsehen vorkommen. Die Talkshows haben ein Feld freigeschlagen, auf dem gewohnheitsmäßig Privates und Intimes öffentlich verhandelt wird und niemand mehr etwas dabei findet, sich zu veröffentlichen. Damit stellen sich altbekannte Fragen in neuer Schärfe: Wie stellt man Vertrauen zu den Menschen vor der Kamera her? Aber auch: wie stellt man es an, sie nicht zu verraten, sie nicht dem Diktat der Story und des Plots auszuliefern?
Balance-Akt
Die Doku-Soap ist eine ambivalente Gratwanderung für Autoren und Protagonisten. Sie ist ein Balancieren zwischen Authentischem und Erzähltem, zwischen Beobachten und Inszenieren, zwischen Finden und Erfinden.
Es hat auf jeden Fall Folgen für die Menschen. Die Frauen in „Abnehmen von Essen“ werden bald zu Schauspielern ihrer selbst werden, wie es bei den „FußbroichsÓ des WDR, einer Art Vorläufer, längst Realität ist. Auch lässt sich eine Tendenz ablesen die das Genre billige und einfach erledigen will. Insgesamt ist die Entwicklungsrichtung noch offen. Während eine Reihe von Doku-Soaps durchaus noch mit dokumentarischer Arbeit zu tun haben, zielt die kommerzielle Verwertung des Genres durchwegs aufs Inszenierte.
„Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben“ etwa wird von SAT.1 gleich „Comedy“ genannt. Hier sind von vornherein die Menschen ihre eigenen Schauspieler. Es war schon in der „Fahrschule“ zu sehen, wie der Sender die Serie dadurch attraktiv zu machen versuchte, dass er eine Protagonistin von Anfang an als Pornodarstellerin verkaufte – wie auch RTL2 mit zwei Bewohnern des BigBrother-Hauses. Eine andere Protagonistin der „Fahrschule“, Doris Grinda, wurde vom Sender auf die Skipiste geschickt – eine Idee, auf die sie von sich aus vermutlich nie gekommen wäre. Es war schon zu lesen, wie sich die korpulente Frau mit der großen Klappe auf dem Laufband ungeschickt gequält hat.
Neue Wirklichkeiten werden damit nicht erschlossen. Im Gegenteil: es handelt sich um den alten Jahrmarkts-Rummel. Es zählt vor allem die Haltung gegenüber den Protagonisten. Sind sie bei sich und dürfen sie sie selbst sein – oder werden sie mit ihren Ticks und Monströsitäten vorgeführt? Lachen wir mit ihnen – oder lachen wir sie aus?
Fritz Wolf – freier Autor aus Düsseldorf – trug diesen Text bei den 29. Tutzinger Medientagen über Soap Operas im TV Ende März in der Evangelischen Akademie Tutzing vor und illustrierte ihn u.a. mit Beispielen aus „Abnehmen in Essen“.